Auf einen Blick
- 93-jährige Evelyn überrascht mit faszinierender Lebensgeschichte und verborgenen Talenten
- Evelyn studierte und lehrte Textilkunst und ist weit herumgekommen
- Sie war zweimal verheiratet und hat Bali, Peru, Finnland, Mexiko und die Schweiz bereist
Ich habe sie neulich bei einem Abendessen bei Freunden kennengelernt: Evelyn, 93 Jahre alt, lebt immer noch allein. Mithilfe ihrer erwachsenen Enkel und ihrer Nachbarn. Auch meine Freundin, die Gastgeberin an diesem Abend, bringt ihr regelmässig die Post hinein und schiebt ihre Mülltonne an den Strassenrand. Evelyn bewegt sich umständlich, die Hüften tun ihr weh, die Knie. An diesem Abend trägt sie ein pastellfarbenes Kleid und unförmige Schuhe. Ihre Augen sind von einem sanften hellen Blau, das den Anschein von Milde erweckt. Sie suchen den Raum ab und bleiben an Victor hängen.
«Wo kommen Sie her?», verlangt sie zu wissen. «Ich kann Ihren Akzent nicht einordnen.» Victor zögert. «Mexiko», sagt er knapp. «Ich hab’ Ende der 40er-Jahre in Mexiko gelebt», verkündet Evelyn. «Unter anderem hab ich dort traditionelle Webkunst studiert.» Sie spreizt ihre Hände, ihre Finger sind verformt. «Sie gehorchen mir nicht mehr.» Dann tippt sie sich an die Stirn. «Das hier funktioniert noch – aber die Hände ...» – «Ach, ihre Hände sind immer noch schön», mischt sich eine etwas angetrunkene Frau von der anderen Tischseite aus ein. Sie hat offensichtlich nicht zugehört und spricht betont langsam mit Evelyn, und in einem süsslichen Ton. «Sie sind ja noch gut beieinander!»
Evelyn verdreht die Augen. Ich kann ihr ansehen, dass sie den Impuls unterdrückt, mit der Gabel zuzustechen. Dann wendet sie sich wieder Victor zu und wechselt ins Spanisch. Jetzt verstehe ich nicht mehr alles, aber genug, um zu erfahren, dass Evelyn Textilkunst nicht nur studiert, sondern auch unterrichtet hat, und zwar an der Universität in Berkeley. Dass sie zweimal verheiratet war und mit beiden Männern weit gereist ist, überallhin, wo sie etwas lernen konnte: Bali, Peru, Finnland, Mexiko. «Ich bin gereist, als Reisen noch ein Abenteuer war.» Sogar in der Schweiz war sie einmal. «Aber da hab ich nichts gelernt», sagt sie schnippisch zu mir. Ich grinse. Ich mag sie. Später verlangt sie, von Victor nach Hause gebracht zu werden. Er kommt lange nicht zurück. «Sollte ich eifersüchtig sein?», frage ich, nur halb im Scherz. «Also, ich bin eifersüchtig», entgegnet meine Freundin, die Gastgeberin. «Ich kenne Evelyn seit Jahren, aber mir hat sie nie von ihrer Kunst erzählt. Oder von ihren Reisen.»
Alte Menschen werden unsichtbar. Ihre vielen Gesichter lösen sich in den Falten auf, ihre Geschichten verschwinden. Immer weniger Facetten werden von der Umwelt wahrgenommen, bis sie nur noch eines definiert, das Altsein. Ich denke an meine Mutter, die sich mit aller Heftigkeit dagegen aufgelehnt hat. Evelyn hingegen scheint damit zu spielen. Sich hinter der Fassade der lieben alten Nachbarin zu verstecken, wenn es ihr passt. Sie zeigt ihre vielen Gesichter nicht einfach so, nicht jedem. Die anderen Gäste sind nun auch gegangen. Meine Freundin und ich räumen Reste weg und trocknen Gläser ab. Was für ein Glück, Menschen zu haben, die mehrere Versionen von uns kennen, die durch unsere Falten hindurch eine ernsthafte Studentin sehen, eine überforderte junge Mutter, eine resolute Abenteurerin, eine Wiederaufstehfrau. Diese Menschen hat Evelyn bereits verloren. Das können wir nicht aufholen. Aber ich möchte mehr von ihr sehen, mehr von ihren Gesichtern. Wenn sie mich lässt.