Milena Moser über Armut in der Schweiz
Bettinas Weihnachtsgeschichte

In den Wochen vor Weihnachten werden wir nicht nur mit Werbung und Geschenkvorschlägen zugeschüttet, sondern auch mit Spendenaufrufen. Bei mir wirken sie kaum.
Publiziert: 23.12.2024 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.12.2024 um 09:21 Uhr
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Besonders um die Weihnachtszeit erreichen vermehrt Spendenaufrufe die Schweizer Briefkästen. Gebeten wird etwa um finanzielle Hilfe für Kinder in Afrika.
Foto: Getty Images

Auf einen Blick

  • Bettina sammelt Spenden für bedürftige Familien in der Schweiz
  • Engagement trotz eigener Schmerzen zeigt Mitgefühl und Stärke
  • 2700 Franken in Migros-Gutscheine umgewandelt und an Familien verteilt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Welle von weihnachtlichen Spendenaufrufen bewirkt bei mir oft das Gegenteil, unter Druck zieht sich meine Grosszügigkeit zurück. Doch es geht auch anders, und Bettina macht es vor. «Lasst uns gemeinsam Weihnachtsgeschichten schreiben!», postete sie Anfang Dezember in sozialen Medien. Dann erzählte sie, dass es sie tief getroffen hat, von Familien zu erfahren, die nicht genug zu essen haben, sich kein Gemüse leisten können. Von Kindern, die ab Mitte Monat nur noch blutte Teigwaren bekommen, von Familienbudgets, die den Bedarf einer Familie nicht decken. 

In der Schweiz? Ja, in der Schweiz. «Da sollten wir etwas unternehmen», schrieb sie. Sie bat um Spenden, die sie direkt an eine Freundin weiterleiten würde, die bei einer wohltätigen Stiftung als Familienhelferin arbeitet. In kürzester Zeit kamen 2700 Franken zusammen, die in Migros-Gutscheine umgewandelt und so verteilt wurden.

Das erstaunte mich wenig. Ich erinnere mich an die Erleichterung, die ich beim Lesen ihres Aufrufs verspürte: Bettina nimmts uns ab! Die Entscheidung, wo zu spenden, wem zu helfen und wie. Wir sind doch im Grunde alle grosszügige und hilfsbereite Menschen, doch das schiere Ausmass des Leidens überfordert uns. Wie oft habe ich gedacht, «da muss man doch was tun!» – und es dann wieder vergessen. Bettina nicht. Bettina hat etwas getan. Und ich wollte wissen, wie sie das gemacht hat. Woher sie die Kraft nahm, die Entschiedenheit. Sie verstand meine Frage nicht ganz: «Als ich von der Not der Menschen erfuhr, wurde ich erst traurig, dann einfach nur wütend. Und Wut gilt es für mich immer, in etwas Positives zu wenden», sagte sie. «Und dann kam der Gedanke: Das mach ich jetzt.»

Die Zweifel, die mich oft angesichts einer Notlage befallen, kennt Bettina auch, und sie hat sie auch von anderen gehört: Das ist doch nur ein Tropfen auf den heissen Stein, das reicht ja nicht für alle, man muss das System ändern, und überhaupt …

«Okay, das sollte man dringend diskutieren. Aber die Kinder sind jetzt da, und sie haben jetzt Hunger und verdienen einfach das Glück der Welt. Und es ist jetzt Weihnachten.»

Bettina leitet eine Stiftung, die Begegnungen für alte Menschen organisiert, Menschen, die sich einsam und nicht gesehen fühlen. Daneben hat sie einen Verein gegründet, der junge Menschen mit Demenz unterstützt, und sie engagiert sich als Trauerbegleiterin. «Man kann nicht einfach wegschauen, wenn es schwierig wird», sagt sie, und ich fühle mich ertappt. Einsame Alte. Junge Demente. Sterbende. Hinterbliebene. Und jetzt: hungrige Kinder. Das sind Situationen, in denen ich auch lieber wegschaue. Weil sie mir Angst machen. Das sei aber ein Fehlschluss, sagt Bettina: «Du kannst mit Kleinem Grosses bewirken. Und sei es, dass ich einer alten Frau die Hand halte.»

Von den notleidenden Familien erfuhr sie während einer Fortbildung, an der sie beinahe nicht teilgenommen hätte, weil sie nach einer Rückenoperation unter fast unerträglichen Schmerzen leidet. «Die Schmerzen machen mich dünnhäutig wie Seidenpapier. Vielleicht hat es mich deshalb so mitgenommen.» Das fällt mir nicht zum ersten Mal auf: Es sind immer die, die selbst Schläge einstecken und kämpfen müssen, die am meisten Mitgefühl zeigen. Die am ehesten bereit sind, anderen beizustehen. Vielleicht muss man den Schmerz am eigenen Leib, in der eigenen Seele erlebt haben, um ihn bei anderen zu erkennen. 

Bettina will aber auch einfach Freude haben, und das, sagt sie, das geht mit Freudemachen einher. Etwas zu tun, etwas bewegen, auch etwas Kleines, durchbricht das Gefühl der Machtlosigkeit, das uns oft beherrscht. Es durchbricht auch unsere Einsamkeit. Wir können unsere Weihnachtsgeschichten nicht alleine schreiben. «Wir sind alle Christkinder.»

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