Auf einen Blick
- Sauerteigbrot-Backen: Familiengeschichte und persönliche Herausforderung für die Freundin
- Entsorgung einer 100-jährigen Sauerteigmutter führt zu familiären Spannungen
- Freundin backt seit Jahren Sauerteigbrot
Nein, sie hat nicht während der Pandemie damit begonnen, als gefühlt die ganze Stadt das Brot entdeckte, für das San Francisco immerhin berühmt ist. Generationen von Touristen haben ihre dicke Krabbensuppe aus einem ausgehöhlten Laib gelöffelt. Doch die Zubereitung ist zeitaufwendig und kompliziert, und vor allem braucht es dazu eine sogenannte Mutter, einen Vorteig, der mit viel Umsicht gehegt und gepflegt werden muss.
Während des Lockdowns wurden diese Sauerteigmütter in Plastiktüten verpackt und an sämtliche verfügbaren Laternenpfähle, Stoppschilder und öffentliche Briefkästen geklebt. «Bitte bedien dich, Nachbar!», stand drauf. Ich wunderte mich immer, dass diese Tüten regelmässig mitgenommen wurden. Etwas Unappetitlicheres hatte ich noch selten gesehen. Und wer sagte denn, dass nicht etwa Bastelleim in den Tüten war? Oder Schlimmeres? Ich war schon drauf und dran, einen Sauerteigkrimi zu schreiben – und wer weiss, vielleicht tue ich das auch noch. Doch dann begannen wir unsere Sonntagsspaziergänge, und meine Freundin eröffnete mir mit ihren Backberichten eine neue, ungeahnte Welt.
Seit über sieben Jahren versucht sie, das perfekte Brot zu backen. Das geht tief in ihre Familiengeschichte zurück. Ihre Grossmutter hatte offenbar eine Sauerteigmutter im Kühlschrank, die über 100 Jahre alt war. Als sie im Sterben lag und sich die ganze Familie in ihrer Wohnung versammelte, räumte eine der vier Schwestern meiner Freundin den Kühlschrank aus und entsorgte dabei das, was sie für eine vergammelte Salatsauce hielt.
Es kam, wie es kommen musste, die Grossmutter hatte auf dem Sterbebett noch einmal einen klaren Moment, in dem sie der versammelten Familie das heilige Versprechen abnahm, den Vorteig am Leben zu erhalten. Und der Schwester meiner Freundin dämmerte, was sie getan hatte. Die Schwestern schoben einander noch jahrelang die Schuld in die Schuhe, die entsorgte Sauerteigmutter wurde bei jedem Familientreffen erwähnt, und meine Freundin, die aus für mich unerfindlichen Gründen als das schwarze Schaf der Familie gilt, wurde schliesslich einstimmig zur Schuldigen erklärt. Erst, als die wahre Täterin selbst im Sterben lag, gestand sie, und die Familiendynamik verschob sich noch einmal mit der Macht der tektonischen Platten, die mitten durch unsere Stadt gehen.
Es ist also nicht schwer, zu verstehen, was das Sauerteigbrot-Backen für meine Freundin bedeutet. Und vielleicht auch, warum sie nie wirklich damit zufrieden ist. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie uns ein paar getoastete Scheiben anbietet, schmecken sie immer hervorragend. Doch sie kann es nicht lassen, relativierend anzumerken, es sei zu viel oder zu wenig Salz dabei, der Teig sei zu schnell aufgegangen oder nicht genug.
«Bist du eigentlich je zufrieden?», fragte ich sie. Sie blieb stehen und schaute mich an. «Milena, du verstehst das nicht», sagte sie. «Du weisst nicht, wie oft ich glaubte, jetzt hab ich's draussen, jetzt weiss ich, wie's geht. Und dann gings beim nächsten Mal wieder schief.»
Ich zog die Brauen hoch. «Wie kommst du darauf, dass ich das nicht verstehe? Das verstehe ich sogar sehr gut!» Warnend hob sie die Hand: «Sag jetzt nicht, das sei wie das Leben selbst!» Also sagte ich nichts, und wir gingen weiter.