Auf einen Blick
- Victors Lebensfreude erwacht langsam und ruckartig
- Ein Vogel vertraute sich Victor an, ein bewegender Moment
- Technischer Mitarbeiter arbeitet sieben Tage die Woche
Lange, bevor wir ein Paar wurden, bewunderte ich seine Fähigkeit, Schicksalsschläge achselzuckend wegzustecken. «Ach, das, ja, ich wurde letzte Woche angefahren», sagte er beiläufig. Oder: «Naja, da ist mir ein Pneu explodiert, alle Handknochen gebrochen, und das eine Woche vor der Ausstellungseröffnung!» Er lachte über Dinge, über die ich ewig grübeln würde. Wie unfair ist das denn, dachte ich. Warum passiert ihm das? Seither habe ich das wieder und wieder erlebt. Jedes Mal, wenn ein Arzt ihm nahelegte, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, winkte er ab: «Ach, das sagt der nur, weil er mich nicht kennt!»
Mehr von Milena Moser
Doch seit der Nacht der US-Präsidentschaftswahl schien dieser unzerstörbare Funken in Victor erloschen, und das machte mir mehr Angst als alles andere. Doch dann erwachte seine Lebensfreude wieder, langsam und ruckartig zugleich. Und ich versuchte, etwas dabei zu lernen.
Das erste Mal leuchteten seine Augen am langen, hölzernen Esstisch unserer Freundin Theresa auf, wo wir schon viele schöne Abende verbracht hatten. Diesmal waren wir nur zu dritt, die Stimmung gedämpft, das Essen wie immer vorzüglich. Und als Victor den Hühnerknochen abnagte, hörten wir es. «Mmmh, mmh, mmh», summte Victor. Essen und kochen, merkte ich mir.
Ein paar Tage später montierten wir seine letzte Installation ab und brauchten dafür länger als vorgesehen. Der technische Mitarbeiter, ein junger Mann mit langen, schwarzen Zöpfen, hatte mir gerade erklärt, dass er sieben Tage die Woche arbeite. «Ich muss es ausnützen, dass ich jung und stark bin.» Als Victor sich dafür entschuldigte, dass er unseretwegen länger bleiben musste, sagte er: «Victor, es ist mir eine Ehre. Ich hab seit 25 Jahren jeden deiner Altare hier gesehen.» Es stellte sich heraus, er war mit seiner Grossmutter aufgewachsen, die ihn als Kind schon zu dieser Ausstellung zum Día de los Muertos mitgenommen hatte.
Als wir später im Truck sassen, sagte Victor: «Was für ein Privileg, so ein Teil eines Lebens zu sein.» Und ich merkte mir: Kunst. Die Kunst ist sein grösster Antrieb, der Motor seines Lebens, seit er selbst ein kleiner Junge war, der heimlich malen und seine Bilder vor der jähzornigen Mutter verstecken musste.
Den Ausschlag aber gab der kleine Singvogel mit den orangefarbenen Kopffedern, der gegen die Fensterscheibe des Ateliers geflogen war. Sofort lief Victor hinaus, um ihm zu helfen. «Ich glaube, Vögel sollte man nicht anfassen», rief ich noch. Doch da schmiegte sich das kleine Tier schon vertrauensvoll in seine Hand. Selbst die Katzen, die ihm sonst überall hin folgen, hielten respektvolle Distanz. Victor streichelte den Vogel, redete ihm gut zu und trug ihn dann zum Aprikosenbaum hinüber.
Mein Verstand sagte mir, dass das Tier vermutlich schlicht zu betäubt war, um Panik zu empfinden. Aber mein Herz sah etwas anderes, es sah einen Moment des Einverständnisses zwischen dem grossen, kranken Mann und dem kleinen, angeschlagenen Vogel. Ich konnte beinahe hören, wie sie einander versicherten, dass alles gut werden würde. Der Vogel kletterte auf Victors ausgestreckten Finger und von da auf den nächsten Zweig. Aber er flog nicht gleich weg. Er nickte ein paarmal, als wollte er sagen: Das schaffen wir. Und Victor nickte zurück. Kleine Wunder, merkte ich mir. Kleine Wunder.