Milena Moser über die Zeitumstellung
Geschenkte Stunden

Die Zeitumstellung nehme ich persönlich, jedes Mal. Sie verwirrt mich nicht nur nachhaltig, sie ist sozusagen eine existenzielle Herausforderung, die mich über Leben und Tod nachdenken lässt.
Publiziert: 03.11.2024 um 10:33 Uhr
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Da in den USA die Zeit eine Woche später auf Winterzeit umgestellt wird, konnte sich Milena Moser durch kluge Wahl des Zeitpunkts ihres Rückflugs eine zusätzliche Stunde ergattern.
Foto: imago images/Future Image

Auf einen Blick

  • Zwei Stunden geschenkt durch Zeitumstellungen
  • Mexikanische Tradition: Den Tod akzeptieren und darüber lachen
  • Am Día de los Muertos soll man nicht beschönigend über die Verstorbenen sprechen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Wie ein Kind freue ich mich über die geschenkte Stunde im Herbst, als wüsste ich nicht, dass sie mir im nächsten Frühjahr wieder weggenommen wird. Was heisst weggenommen, gestohlen! Ich nehme das sehr persönlich. Doch dieses Jahr habe ich das Schicksal ausgetrickst. Glaube ich wenigstens. Denn die Logistik dieser halbjährlichen Zeitsprünge überfordert mich mental, das gebe ich zu.

Als am 27. Oktober die Uhren in der Schweiz um eine Stunde zurückgedreht wurden, hielt ich mich gerade in Zürich auf. In Amerika beginnt die Winterzeit aber eine Woche später, also am 3. November. Da bin ich schon wieder in San Francisco. Ich habe also dieses Jahr zwei Stunden geschenkt bekommen! Wenn ich nun im Frühjahr nicht wieder genau zur Zeit der Zeitumstellung hin- und herfliege, kann ich eine dieser Stunden behalten. Und was, wenn ich das nächstes Jahr wieder genau so mache, und überhaupt jedes Jahr? Füge ich dann meiner Lebenszeit jedes Mal eine Stunde hinzu, trickse ich also so den Tod aus? Ist meine Lebenszeit überhaupt vorbestimmt?

«Jetzt ist es genau 23 Jahre her, seit ich zum ersten Mal gehört habe, ich hätte noch drei Monate zu leben», sagte Victor neulich. Grund zum Feiern. Die Ärzte kratzen sich an den Köpfen, die KI der Versicherung erklärt ihn zum Palliativpatienten. «Niemand kann sich erklären, warum Ihr Mann überhaupt noch lebt», sagte ein abgehetzter Notarzt in fast vorwurfsvollem Ton zu mir. «Ich habe vor, mindestens 180 Jahre alt zu werden!» «Bitte nicht!», rutscht mir wenig charmant heraus, ich relativiere: «Oder dann ohne mich, das ist mir zu anstrengend.»

Manche Freundinnen irritiert es, dass wir «ständig» über den Tod reden. Dass Victor Witze darüber macht. «Das ist nicht lustig!» Für einen Mexikaner schon: Die einzige angemessene Art, mit der Unausweichlichkeit des Todes umzugehen, ist, sie zu akzeptieren. Den Tod zu behandeln wie einen etwas mühsamen Verwandten, der immer im falschen Moment auftaucht, der sich oft schlecht benimmt, den man nicht loswerden kann. Selbst wenn wir ihm das Haus verbieten, klettert er durchs Fenster herein. Warum also nicht mit ihm auskommen. Dann muss er es sich aber auch gefallen lassen, dass wir ihn necken, dass wir uns über ihn lustig machen.

Am Día de los Muertos, dem wichtigsten mexikanischen Feiertag und auch bei uns zu Hause, ist es Tradition, dass man über seine Verstorbenen redet, wie man im Leben mit ihnen umgegangen ist. Anfangs irritierte mich das, ich empfand es als respektlos, ich war mir gedämpfte Stimmen gewöhnt, und ein Schönreden, fast schon Heiligsprechen der Verstorbenen. Aber Victors Erklärung leuchtete mir ein: Wenn wir so über sie sprechen, erkennen sich die Verstorbenen in unseren Worten nicht. Sie meinen, wir sprechen über jemand anderen, sie seien im falschen Haus, und ziehen weiter. Denn die Verstorbenen sind an einem wunderschönen Ort, alle Verstorbenen, das mexikanische Paradies kennt keine Einreisebedingungen.

Wir müssen unsere Toten schon überzeugen, dass sie diesen einen Abend im Jahr mit uns verbringen, wir müssen sie bekochen, wir müssen stark duftende Blumen aufstellen, und vor allem müssen wir ihnen zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben. «Er kam ja immer zu spät», sagt Victor über einen Freund. «Und dann beklagte er sich, dass wir schon angefangen haben, zu essen!» Alle lachen, alle erinnern sich. Und wir spüren die Anwesenheit dieses Freundes, als sei er unter uns. Und ich denke: Diese Stunde gebe ich nicht zurück. Die gehört mir.

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