Milena Moser über die US-Wahlen
Das Ende der Realität

Trotz aller düsterer Prognosen hat mich das Wahlergebnis in meiner Wahlheimat getroffen wie eine Abrissbirne ein baufälliges Haus. Ich bin in die Knie gegangen. Ich bin zusammengebrochen.
Publiziert: 08.11.2024 um 10:54 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2024 um 13:13 Uhr
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Als die Landkarte der USA im Fernsehen immer roter wird, beginnt Milena Moser zu schluchzen.
Foto: IMAGO/ZUMA Press Wire

Auf einen Blick

  • Die politischen Ereignisse fühlen sich für Milena Moser an, wie den Bezug zur Realität zu verlieren
  • Die Ernennung von Kamala Harris brachte vorübergehende Erleichterung
  • Vor acht Jahren begann die Erschütterung
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Vor genau acht Jahren hat es begonnen, dieses unheimliche Gefühl, den Bezug zur Realität verloren zu haben. Nicht mehr auf meinen Instinkt zählen zu können, auf meine Lebenserfahrung, auf meine Einschätzung dessen, was möglich, was denkbar ist. Die Realität wurde mir unter den Füssen weggezogen wie ein mottenzerfressener Teppich.

Damals war ich allein in einem Hotelzimmer in Atlanta, wo ich am nächsten Tag eine Lesung hatte. Victor und ich redeten die halbe Nacht hindurch, sprachen einander Mut zu. Ich schlief mit dem Telefon in der Hand ein, und als ich aufwachte, war das passiert, was ich mit keiner Faser meines Wesens für möglich gehalten hätte. Ich weiss noch, wie ich mir einen Kaffee holte und wie gespenstisch still es im überfüllten Starbucks war. Als hätte es uns allen kollektiv die Sprache verschlagen. Mein Vertrauen in das Leben und in mich selbst war erschüttert.

Die Pandemie trug das Ihre dazu bei. Erst neulich haben wir im Freundeskreis darüber geredet, über die Spuren, die diese Zeit hinterlassen hat. Und dass wir immer noch nicht genau abschätzen können, wie tief diese Erschütterung geht. Ob sie immer noch nachhallt.

Doch irgendwann im Verlauf dieser letzten acht Jahre muss sich mein Optimismus wieder aufgebaut haben, stetig und fast unmerklich, mein unerschütterlicher Glaube an das Gute, meine Liebe zu diesem Land, das ich mir schliesslich ausgesucht habe. Ich bin ja freiwillig hier. Ich spürte die Hoffnung, die sich nach der Ernennung Kamala Harris' ausbreitete, fast körperlich. Wie Sonne auf der Haut, wenn sich eine dunkle Wolke ein Stück weit verschiebt, gerade genug, um etwas Licht hindurchzulassen, etwas Wärme.

Ich glaubte daran. An diese Hoffnung. An diese geteilte Erleichterung, die wie eine Welle durch das Land ging. Diese Welle würde uns ans Ufer tragen. In die Sicherheit. Das glaubte ich tatsächlich. Das glaubte ich bis zum Schluss. Und ich war nicht allein. Niemand in meinem Umfeld konnte sich das Ergebnis vorstellen. Selbst Victor, der als Einziger das Wahlergebnis vor acht Jahren vorausgesagt hatte, war zuversichtlich.

Wir hatten Pizza aufgewärmt und eine Flasche Bubbly aufgemacht. Der Fernseher lief ohne Ton, wir waren voller Hoffnung. Doch nach dem Anstossen blieben die Gläser unberührt, die Pizza wurde kalt. Es ging zu schnell. Die roten Flecken auf der Landkarte breiteten sich aus wie Blut. Das konnte doch nicht – das durfte doch nicht. Ich stand auf, meine Knie knickten ein, im nächsten Moment lag ich auf dem Küchenboden zusammengerollt und schluchzte.

Victor setzte sich zu mir, hielt mich fest, und dann merkte ich, dass auch sein Gesicht nass war. Ich weinte, weil ich verwöhnt bin, weil ich mit Rechten aufgewachsen bin, selbst als Frau, selbst in einem konservativen Land wie der Schweiz. Ich weiss, wie es sich anfühlt, Rechte zu haben. Ich will das nicht verlieren.

Victor weinte, weil er bereits einmal miterlebt hat, wie ein Land, das er liebt, von innen zerstört wurde. Irgendwann stand er auf. Er nahm unsere beiden Handys und schob sie unter ein Sofakissen. Er schaltete den Fernseher aus, der immer noch ohne Ton lief, wie damals. Wir versuchten, zu schlafen. Wir gaben auf. Wir gruben unsere Handys wieder aus und riefen unsere Freundinnen an. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Im Moment können wir nur eins tun: füreinander da sein.

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