Auf einen Blick
- Dankbarkeit als Lebenshaltung: Autorin teilt persönliche Erfahrungen und Gedanken
- Kleine Flucht aus dem Alltag: Unverhoffte Reise an die Küste
- Über 20 Jahre Tradition: Thanksgiving-Brauch der Dankbarkeitsäusserung übernommen
«Wir müssen füreinander da sein», sagt meine Freundin auf unserem Sonntagsspaziergang. «Wenn die eine den Mut verliert, richtet die andere sie auf. Und umgekehrt.» – «Und wenn wir beide gleichzeitig den Mut verlieren?», frage ich. Sie boxt mich in die Seite: «Nun sei doch nicht immer so!» – «Immer?!»
Alles ist relativ, auch meine optimistische Lebenshaltung. Im Vergleich zu meinen amerikanischen Freundinnen, und erst recht zu meinem Mann Victor, bin ich eher schwermütig und verliere schneller den Mut als sie. Umso wichtiger ist mir diese Tradition, die ich bei meinem ersten Thanksgiving hier vor über zwanzig Jahren kennengelernt habe: laut auszusprechen, wofür ich dankbar bin.
Das tue ich unterdessen so gut wie jeden Tag. Und irgendetwas finde ich immer, selbst an den dunkelsten Tagen. Dieses einfache Gedankenspiel hellt meine Stimmung zuverlässig und fast sofort auf. Einen Versuch ist es wert.
Zum Beispiel: Ich bin dankbar für mein Umfeld, das mich aufrichtet und mich hält. Dankbar für Menschen, die mich auch mal in die Seite boxen, die über mich lachen, ohne mich auszulachen. Für das Wohlwollen, das mir entgegengebracht wird. Für den Regen, der gegen die Scheiben prasselt und auf das niedere Dach meines Schreibhäuschens. Für das Schreibhäuschen, von dem ich über dreissig Jahre lang geträumt habe, aber auch für das Schreiben an sich, das mich aus mir heraus und in mich hinein führt, das mich ablenkt und fokussiert, je nachdem, was ich an diesem Tag gerade brauche.
Ich bin dankbar für meine Vergesslichkeit, die mich komplett ausblenden liess, dass ich vor Monaten drei Nächte in einer umgebauten Pizzeria an der Küste reserviert hatte. Bis mich letzte Woche eine automatische Erinnerungsmail aufforderte, die Koffer zu packen. Das kam genau im richtigen Moment.
Dankbar für diese unverhoffte kleine Flucht aus dem Alltag. Für den anderen Blick aus dem Fenster. Für die Seehunde, die in den Wellen spielen, und für die Otter, die Victor immer an seine Katzen denken lassen. Okay, dankbar auch für die Katzen, die mich zuverlässig an meinen Platz verweisen und mich Bescheidenheit lehren. Oh, und Pasta! Das meine ich ernst: Pasta macht das Leben einfach besser. Dankbar für all die Menschen, die mir im richtigen Moment einen Teller voll vorgesetzt haben. Meine Mutter. Katharina.
Damals in Barcelona morgens um drei, nachdem wir auf offener Strasse überfallen worden waren und die Nacht im Krankenhaus verbracht hatten. Victor, der sagt: «Ich weiss, was du jetzt brauchst.» Pasta, genau. Dankbar für die Möglichkeit, so spät im Leben noch so viel zu lernen und zu teilen. Dankbar für stille Stunden auf dem Sofa, mit einem Buch in der Hand. Stunden, in denen nicht geredet werden muss. Und auch für all die Stunden, in denen wir reden, durcheinanderreden, lachen, zusammen sind.
Vor allem aber bin ich gerade jetzt, in dieser Woche, der Angestellten auf dem mexikanischen Konsulat in Fresno dankbar, die zu Victor sagte: «Wir sind hier, um unseren Landsleuten zu dienen, nicht um sie zu schikanieren.» Und ihm einen neuen Pass ausstellte. Zu sagen, diese Frau habe sein Leben gerettet, ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber wirklich nur ein bisschen. Dankbar für die Achterbahnfahrt meines Lebens. Für dieses Abenteuer, das nicht zu Ende ist.