Milena Moser über ihren «Architektur-Code»
Erzwungene Langsamkeit

Wenn Victor und ich immer wieder stehen bleiben, um die durchaus realen architektonischen Eigenheiten zu kommentieren, die uns unterwegs begegnen, dann hat das mit unserem Kunstverständnis wenig zu tun.
Publiziert: 06.01.2025 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.01.2025 um 14:52 Uhr
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Wenn Milena Moser oder ihr Partner vor Häusern stehen bleiben, um über dessen Architektur zu reden, hat das nicht zwingend mit ihrem Interesse für Architektur zu tun. (im Bild: viktorianische Häuser in San Francisco)
Foto: Shutterstock

Auf einen Blick

  • Ein Paar mittleren Alters geht langsam die steile Strasse hinauf. Sie unterstützen sich gegenseitig.
  • Ein Architektur-Code gilt als Vorwand für Pausen und Zeichen gegenseitiger Rücksichtnahme.
  • Drei Stunden Fahrt im harten Klappsitz verschlimmerten Rückenschmerzen von Milena Moser.
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Strasse ist steil, das Pflaster nass. Ich gehe langsam, vorsichtig, wie eine alte Frau. Okay, ich bin eine alte Frau, aber so alt nun auch wieder nicht. Victor bleibt stehen. «Willst du mir etwas über die Architektur erzählen?» Ich muss lachen. Das ist ein privater Scherz zwischen uns, das mit der Architektur.

Als wir uns kennenlernten, waren ihm seine körperlichen Einschränkungen peinlich. Er wollte mir nicht zur Last fallen (als ob er das könnte), also sagte er nie, er brauche eine Pause, oder ich solle doch bitte langsamer gehen. Stattdessen blieb er stehen, um mich auf eine architektonische Besonderheit hinzuweisen: «Sind dir die Treppenstufen bei diesem Haus hier aufgefallen, die sind nämlich nicht etwa original viktorianisch wie der Rest des Gebäudes, sondern ...» Ich brauchte eine Weile, um ihm auf die Schliche zu kommen, aber nachdem er mich zum dritten Mal auf die Art-déco-Malereien im Treppenhaus einer Freundin hingewiesen hatte, die rücksichtsloserweise unter dem Dach wohnt, begriff ich.

Aber erst einmal sagte ich nichts. Ich respektierte seine Diskretion, mehr noch, seinen Stolz. Es ist nicht einfach, frisch verliebt und gleichzeitig angeschlagen zu sein. Von allem Anfang an bewunderte ich seine Tapferkeit, seine absolute Weigerung, sich je über seinen Zustand zu beklagen. Er zeigte mir damit eine neue Lebenshaltung – und die Würdigung der lokalen Architektur war ein Teil davon. Erst Jahre später sagte ich irgendwann einmal, es sei okay, ich wisse, was es mit den Art-déco-Verzierungen auf sich habe. Da kannten wir uns dann lange genug, hatten genug zusammen durchgestanden, dass das Vertrauen Zeit gehabt hatte, zwischen uns zu wachsen. Und die Architektur wurde zum Code.

Jetzt bin ich es, die zur Langsamkeit gezwungen ist. Auf die denkbar blödeste Art habe ich mir den Rücken verhauen, indem ich mich gleichzeitig umdrehte und bückte, um ein Handtuch vom Boden aufzuheben. Ein Handtuch! Und noch nicht einmal ein nasses! Am selben Tag fuhren wir nach Fremont, um eine Installation abzubauen, das heisst, ich sass drei Stunden auf dem harten Klappsitz in Victors Truck, und das hat mir dann den Rest gegeben. Wobei, ich will ja nicht jammern: Das Zusammenleben mit einem gesundheitlich so gefährdeten Menschen hat mich gegen eigene Beschwerden immunisiert. Andererseits geniesst es Victor geradezu, wenn ich einmal krank bin.

Das Klischee der «Männergrippe» wird bei uns umgekehrt durchgespielt. Ich muss nur ein wenig husten, und Victor lässt alles stehen und liegen, um mir Tee zu kochen, meine Temperatur zu messen, gar einen Arzttermin vorzuschlagen. Letzteres ist etwas, das in Amerika eigentlich nur bei akuter Lebensgefahr in Betracht gezogen werden sollte. Aber ich kann ihm nachfühlen, dass er diese seltenen Rollenwechsel auskostet. Und so stehen wir hier, auf dem Weg zu Freunden.

Es ist nicht weit, ich kann ihre Haustür bereits sehen. Aber wie gesagt, die Strasse fällt steil ab. Mein Rücken verkrampft sich, ich stütze mich an der Hauswand ab. «Ist es nicht erstaunlich, wie selten man in San Francisco solche reinen Backsteingebäude sieht?», frage ich. «Das hat mit der Erdbebengefahr zu tun», bestätigt Victor. So stehen wir eine Weile vor der unauffälligen gelben Backsteinwand und unterhalten uns, bis ich mich in der Lage fühle, weiterzugehen. Wir halten uns an den Händen. Wir halten uns aneinander.

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