Auf einen Blick
- Milena Moser verliert zum wiederholten Mal ihr Portemonnaie, der Verlust beschäftigt sie
- Ein Freund erklärt Verluste als kosmischen Zins für Lebensglück
- Nächster freier Termin beim Strassenverkehrsamt erst in einem Monat
Mein Umfeld reagiert schon gar nicht mehr darauf: «Schon wieder?», fragen sie höchstens. «Wo wars denn diesmal?» Wenn ich das wüsste, hätte ich es ja nicht verloren! Ich sollte das also gewohnt sein: den Schreckmoment, in dem mir der Verlust bewusst wird, das hektische Suchen, die Rückfragen. Dann die immer gleiche Prozedur: Karten sperren, neuen Fahrausweis bestellen, der unerbittlichen Angestellten in der chemischen Reinigung erklären, warum ich den Abholschein nicht dabei habe. Es ist mir weiss Gott oft genug passiert.
Ein alter Freund tröstete mich einmal damit, dass ich auf diese Weise das kosmische Gleichgewicht erhalte. Das kosmische Gleichgewicht? Ja, denn ich müsse doch ehrlich zugeben, dass ich sehr viel Glück habe im Leben. So viel Glück könne die Götter verstimmen, meinte mein Freund. Der regelmässige Verlust meiner Wertsachen sei eine Art Zins, den ich den Göttern entrichte. So blieben sie mir wohlgesinnt und kämen nicht auf die Idee, mich auf drastischere Weise zu büssen.
Ich gebe zu, so ganz verstand ich diese Logik nicht, aber sie klang immer noch besser als die Stimmen in meinem Kopf. Diese waren schonungslos: «Wie dumm bist du eigentlich?», fragten sie. «Warum passiert dir das ständig? Andere können problemlos ihre Taschen festhalten, ihre Schlüssel, ihre Telefone, ihre Portemonnaies. Warum kriegst du das nicht hin?» «Ich zahle Zinsen für das viele Glück in meinem Leben», antwortete ich hoheitsvoll, und das brachte die Stimmen zum Schweigen.
Aber diesmal, ich weiss nicht warum, diesmal beschäftigt mich der Verlust über Gebühr. Weil ich ihn mir nicht erklären kann. Mein Portemonnaie ist immerhin recht gross und knallgrün und eigentlich nicht zu übersehen. Ich seh mich noch, wie ich es aus dem Rucksack nehme und zu Victor sage: «Ich glaub, ich nehm es heute Abend nicht mit.» Und dann nur mein Telefon und meine Lesebrille einstecke, bevor wir zu unseren Freunden gehen. Victor erinnert sich auch daran. Und meine Kreditkarten wurden seither nicht benutzt, das kontrolliere ich obsessiv. Das Portemonnaie wurde also nicht gestohlen. Es muss irgendwo sein. Ist es aber nicht.
Ich habe alles mehrmals auf den Kopf gestellt, Möbel verschoben, Sofakissen aufgehoben, sogar in den Schäften unserer Winterstiefel nachgeschaut und im Gefrierfach des Kühlschranks. Victor munkelt etwas von drohendem Identitätsdiebstahl, er drängt mich, die Karten zu sperren, einen neuen Fahrausweis zu beantragen. Der nächste freie Termin bei einem Strassenverkehrsamt in meiner näheren Umgebung ist in einem Monat, in Salinas, einer kleinen Gemeinde etwa eineinhalb Stunden südlich von uns, die vor allem durch ihre Gemüsefelder und Hochsicherheitsgefängnisse bekannt ist.
«Wir machen einen Tagesausflug draus», sagt Victor. «Das ist doch etwas, worauf wir uns freuen können!» Er hat wie immer recht. Denn während ich von meiner Suche nach dem grünen Ding besessen bin, passieren Dinge auf der Welt, die von echter Bedeutung sind. Dinge, die einen berechtigterweise wahnsinnig machen könnten. Dinge, die mir wirklich Sorgen machen, mir schlaflose Nächte bereiten sollten. Und dann verstehe ich: Das grüne Ding tut mir einen Gefallen, indem es sich vor mir versteckt. Es lenkt mich von der Realität ab. Es opfert sich als das kleinere Übel. «Danke», sage ich. «Aber jetzt könntest du dich ja auch wieder zeigen ...»