Darum gehts
- Autorin reflektiert über Zeitgefühl und Zeitmanagement im Alltag
- Mutter der Autorin erlebte veränderte Zeitwahrnehmung im Alter
- Virtuelle Schreibgruppe begann um 17 Uhr, und Milena Moser verpasste beinahe den Start
Wie schön, dachte ich, wie schön, so viel Zeit zu haben. Ich sass auf dem Sofa und spielte mit meinem Handy. Das heisst, wenn ich schon ehrlich sein will, ich schaute mir Katzenfilmchen an. Nicht mal von meinen eigenen Katzen, die ich weniger vermisse, als ich zugeben möchte. Ab 17 Uhr würde ich meine virtuelle Schreibgruppe leiten, danach hatte ich noch einen Auftritt, aber jetzt – jetzt hatte ich Zeit. Endlos Zeit, so schien es mir.
Wie selten ist das geworden, dachte ich, dass ich einfach nichts tue, nichts tun muss, nichts geplant habe, wenigstens nicht für die nächste Stunde. Gerade während meiner Lesereisen in der Schweiz sind die Tage oft nahtlos durchgetaktet, denn ich will ja nicht nur arbeiten, ich will auch meine Familie sehen, meine Freundinnen, meine – alle! Alle will ich sehen, und egal, wie lange ich hierbleibe, die Zeit ist immer zu kurz, zu kurz für alles.
Das könnte man natürlich auch über das Leben an sich sagen. Meine Mutter sprach in den letzten Jahren ihres Lebens oft darüber, wie sich ihr Zeitgefühl mit dem Alter verändert hatte. Auf erstaunliche Weise: «Die einzelnen Tage vergehen immer langsamer», sagte sie. «Aber die Jahre rasen an mir vorbei. Schon wieder eins weniger.»
So weit ist es bei mir noch nicht, aber ich merke, dass ich immer mehr Zeit brauche, um mich zum Beispiel für einen Auftritt bereitzumachen. Ach was sage ich, nur schon das Haus zu verlassen, dauert dreimal länger als früher! Auch diese Zeit muss ich einplanen, die Zeit, die ich früher gar nicht brauchte.
Ich gebe mir diese Zeit, ich stehle sie nicht, ich wehre mich gegen diesen Ausdruck «ich habe mir die Zeit gestohlen, um …». Um etwas Schönes zu machen, nämlich, «etwas für mich». «Wem hast du denn die Zeit gestohlen?», will ich nachfragen. «Wem gehört deine Zeit?» Meine Zeit gehört nämlich mir, doch selbstverständlich vergesse ich das zwischendurch auch wieder.
An diesem geschenkten Nachmittag aber behielt ich trotz allem die Uhr im Auge, auch wenn gerade ein junges Büsi auf einem Staubsaugerroboter durch eine Wohnung kurvte. Es war 16.51 Uhr, es blieb mir also noch ziemlich genau eine Stunde, bevor ich mir für die virtuelle Gruppe den Kragen richten und die Haare kämmen musste.
Merken Sie was? Ich merkte es nicht. Dafür mein Handy. Piepsend zeigte es eine Meldung auf Instagram an: Eine Frau verkündete, sie mache sich grad für die virtuelle Schreibgruppe bereit. «Die beginnt doch erst in einer Stunde», wollte ich schon kommentieren. Und da wurde es endlich auch mir klar: 17 Uhr war nicht in einer Stunde. 17 Uhr war jetzt.
Das war ja dann, bis auf den kurzen Schreckensmoment, auch kein Drama. Dass meine Haare nicht gekämmt waren, fiel bestimmt niemandem auf. Doch das Gefühl verfolgte mich noch durch den Abend, das Gefühl, eine Stunde hinterherzuhinken. Als würde ich mich noch in einer anderen Zeitzone befinden. Es war, als hätte mein Körper darauf bestanden, die in der Nacht auf letzten Sonntag verlorene, verschwundene Stunde nachzuholen, sie auszuleben. Ich wünschte nur, ich hätte etwas Bedeutungsvolleres damit angefangen, als Katzenfilme zu schauen. Oder auch nicht. Vielleicht war es das Vernünftigste, Sinnvollste und Wichtigste überhaupt: nichts zu tun.