Milena Moser
Ode an den Quartierladen

Wir nennen ihn den Corner Store, den Eckladen. Jedes Quartier hat einen. Nur wir nicht. Oder nicht mehr. Wie wichtig das Lädeli für das Quartierleben ist, welchen Platz es in unserem Alltag einnimmt, das merkten wir allerdings erst jetzt.
Publiziert: 22.02.2021 um 08:46 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2021 um 11:02 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben und ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow (zvg)
Alexandra Fitz

San Francisco ist ein Dorf, oder eher eine Ansammlung von Dörfern. Jedes Quartier hat sein eigenes Gesicht, seine Stimmung, seine Orte und seine Lokale. Man kennt seine Nachbarn schnell, weil man ihnen immer wieder über den Weg läuft, im Café oder in der Wäscherei oder eben im Lädeli an der Ecke. Victor, der seit fünfundzwanzig Jahren hier lebt, kennt sowieso alle und jeden, und jeder kennt ihn. Das ganze Quartier nimmt Anteil an seinem Leben, hat die Krankheit und den Tod seiner ersten Frau Ann miterlebt, Victors eigene lange Krankheit, das Auf und Ab von Genesung und Rückfällen. Von dieser Verbundenheit habe ich von Anfang an profitiert. Einen Gratis-Espresso hier, einen freigehaltenen Parkplatz dort, Kochtipps und einen Bund Peterli zu meinen Einkäufen im Quartierladen. «Für Victor? Sag ihm einen Gruss!» So bin ich im Quartier verankert. «Milenita, hol mir doch schnell noch etwas Koriander und eine weisse Zwiebel!», ruft Victor regelmässig aus der Küche. Und ich laufe los. Im Laden tausche ich mich dann über das Menü des Abends aus, als wüsste ich, wovon ich rede. «Für die Salsa Verde braucht er noch … ja, die grünen Tomatillos, aber nur die ganz kleinen …»

Doch in den letzten Jahren gab der Quartierladen immer mehr ab. Der «neue» Besitzer, der das Geschäft vor acht Jahren übernommen hatte, behandelte die Angestellten schlecht, bezahlte sie nicht, ignorierte die Auflagen der Stadt, liess die Waren vergammeln. Schliesslich wurde der Laden von einem Tag auf den anderen zwangsgeschlossen. Und dann kam der Lockdown, der bei uns jetzt seit elf Monaten anhält. Von einem Tag auf den anderen wurde Einkaufen zur Staatsaktion. Wir stehen Schlange vor den Supermärkten, nur um festzustellen, dass das Gewünschte meist ausverkauft ist. Das schlägt mir besonders aufs Gemüt, weil ich mir gern einbilde, eine Individualistin zu sein. Doch es stellt sich heraus, ich habe genau dieselben Wünsche wie alle anderen auch. Eine Woche ist es Toilettenpapier, dann sind es Penne Rigate und in der Woche darauf dann Bio-Pouletbrüstchen. Ich weiss nicht, wie oft wir gejammert haben: «Ach, ich vermisse den Eckladen! Wenn doch nur unser Lädeli offen wäre!»

Als hätten sie unsere Gebete erhört, kauften Georg und Maria, die ursprünglichen Besitzer, die den Eckladen fünfundzwanzig Jahre lang erfolgreich geführt hatten, bevor sie sich zur Ruhe setzten, ihr Geschäft zurück. Es war Ehrensache, vor allem für Georg, der all die Jahre nur schwer zusehen konnte, wie sein Nachfolger das Geschäft vor die Hunde gehen liess. Und dass das Quartier, in dem er mit seiner Familie lebt, nun während der Pandemie ohne Lädeli auskommen soll, das hielt er schon gar nicht aus.

Die Familie kaufte das Geschäft zurück, regelte alle Schulden, erfüllte die Auflagen und füllte die Regale mit den frischesten und anmächeligsten Früchten und Gemüsen der Stadt – und zum Einkaufspreis. «Wir sind nicht mehr auf die Einnahmen angewiesen», sagt Maria. «Wir wollen unserem Quartier etwas Gutes tun.»

Wir stehen auch hier Schlange, aber wir reden miteinander. Wir sind alle am Ende mit unseren Kräften, wir sind gereizt und ungeduldig. Doch das alltägliche Einkaufen verankert uns wieder.

Zu Hause bist du dort, wo du dich nicht erklären musst, habe ich irgendwo gelesen. Dort, wo man weiss, dass du nur die kleinsten Tomatillos willst.

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