Milena Moser
Schritt für Schritt

Wie entsteht eine Tradition? Oder auch nur eine Gewohnheit? Wann ist eine Gewohnheit Tradition? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich jeden Sonntagmorgen früh mit meiner Freundin Theresa spazieren gehe.
Publiziert: 18.01.2021 um 07:06 Uhr
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Aktualisiert: 05.03.2021 um 10:21 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow
Milena Moser

Ich glaube, wir haben im Frühjahr damit angefangen, als der Lockdown begann. Bis dahin hatten wir uns eher abends zum Essen getroffen. Theresa hat fast ihr ganzes Leben in San Francisco und Umgebung verbracht und kennt immer die besten Restaurants und die verstecktesten Bars. Ausserdem ist sie eine grossartige Köchin und eine grosszügige Gastgeberin. Bei ihr kommen immer die unterschiedlichsten und interessantesten Menschen zusammen. Kamen, meine ich natürlich. In Kalifornien, einem der Epizentren der Pandemie, wurden die Schutzmassnahmen nie wirklich gelockert. Und so haben wir uns irgendwann zum Spazierengehen verabredet, und dann noch einmal, und irgendwann mussten wir uns nicht mehr verabreden, irgendwann war es einfach klar: Am Sonntagmorgen kurz vor oder nach halb acht steht Theresa vor der Tür und sagt: «Ich weiss genau, wo wir heute hingehen!»

Ob es regnet oder ob die Sonne scheint. Ob es gut geht oder schlecht. Wir gehen spazieren. Am Tag nachdem meine Mutter gestorben war. Am Tag nachdem die amerikanische Präsidentschaftswahl entschieden war. Am Tag, an dem Theresas Sohn wieder nach Los Angeles zog, und am ersten Sonntag im neuen Jahr. Wir haben unsere bevorzugten Routen und unsere kleinen Rituale. Vor allem aber verirren wir uns regelmässig. Und zwar immer so, dass es sich im Nachhinein als perfekter Glücksfall herausstellt. So landeten wir einmal genau vor dem Motel an der Rockaway Beach, das in meinem nächsten Roman vorkommt. Und siehe, das letzte Zimmer, das auf den Parkplatz und die Abfallcontainer hinausgeht, hat nicht die Nummer 20, wie ich geglaubt hatte, sondern die 21. Ein andermal erwischten wir einen falschen und viel zu steilen Weg, doch auf dem flachen, den wir eigentlich angepeilt hatten, ging genau an dem Tag ein kleiner Steinschlag runter. Kein wirklich gefährlicher, doch wir redeten uns noch wochenlang ein, wir seien nur knapp dem Tod entronnen. Und letzten Sonntag verfuhren wir uns. Es war ein grauer, nasskalter Tag. Was die Einheimischen «nassen Nebel» und wir Neuzugezogenen «Regen» nennen. Theresa hatte einen gut befestigten und flachen Rundgang um ein Wasserreservoir vorgesehen: «Da herrscht bei Nebel eine besonders schöne Stimmung …» Und während ich noch über das Wort «Nebel» und seine unterschiedlichen Interpretationen nachdachte, waren wir plötzlich am Flughafen. «Ach, Theresa», seufzte ich, «ich wünschte, ich könnte jetzt in die Schweiz fliegen …» Es war der Sonntag vor dem Montag, an dem mein jüngerer Sohn Geburtstag hatte.

«Verdammt, ich hab die falsche Ausfahrt genommen», sagte Theresa. «Aber so was von falsch!» Meilen von unserem ursprünglichen Ziel entfernt, tauchte dann aber gleich ein Spielplatz auf, und Theresa fuhr kurzentschlossen auf den Parkplatz.

«Weisst du noch, wie oft wir früher hier waren?» Unsere Söhne waren zusammen zur Schule gegangen, so haben wir uns kennengelernt. Wir spazierten am geschlossenen Naturkundemuseum vorbei und fragten uns, ob jemand die Frösche und Schildkröten füttere. Wir kletterten auf das Piratenschiff auf dem Spielplatz und lachten über die etwas unmotiviert wirkenden Haifische und Krokodile aus Plastik, die mit aufgerissenen Mäulern aus dem Sandkasten ragten. Wir redeten über unsere Söhne. Wir waren am richtigen Ort.


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