Milena Moser
Farbe bekennen

Letzte Woche hatten wir Lust zu streichen. Gelbe Wände, dunkelrote Regale, ein hellgrünes Buffet – was soll ich sagen, mein Mann ist Künstler. Die Auswahl der Farben überlasse ich ihm, und das Kaufen derselben auch.
Publiziert: 31.01.2021 um 18:26 Uhr
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Aktualisiert: 19.02.2021 um 15:14 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow
Milena Moser

Der Baumarkt ist das einzige Geschäft, in das ich Victor nicht immer begleite. Nicht, weil mich das Angebot nicht interessieren würde. Seit ich meine eigenen bescheidenen handwerklichen Fähigkeiten entdeckt habe, üben Werkzeuge und Eisenwaren eine ungeahnte Anziehungskraft auf mich aus. Fast wie Schuhe und Stiefel. Doch der Baubedarf ist auch einer der wenigen Orte, an denen Victor sich wohlfühlt und wo er nicht belästigt wird. Ansonsten stellt das Einkaufen für ihn einen eher erniedrigenden Hindernislauf dar, und das hat nichts mit der Pandemie und dem Lockdown zu tun.

Wenn er allein loszieht, wird er von Ladendetektiven auf Schritt und Tritt begleitet, am Anprobieren gehindert, gar nicht erst bedient oder von oben herab behandelt. «Diese Schuhe sind aus Leder, Leder, verstehen Sie, das sind Sie vermutlich nicht gewohnt!» Ich gebe zu, anfangs habe ich seinen Erzählungen etwas ungläubig gelauscht. Schliesslich hatte ich vor zwanzig Jahren schon in San Francisco gelebt, die Stadt immer als liberal und grosszügig geschätzt. Besonders gut gefiel mir, dass man hier nicht nach dem Äusseren beurteilt wird. Ich genoss es, auch mal in Trainerhosen und Gummistiefeln in einer schicken Hotellobby zu sitzen und Champagner zu trinken, wenn mir danach zumute war. Über die Rolle, die meine Hautfarbe dabei spielte, habe ich zu meiner Schande nie nachgedacht. Ausserdem sieht Victor auch nicht besonders exotisch aus, wenn man von seinen langen, schwarzen Haaren und seinen mandelförmigen Augen absieht. Doch genau darum geht es: um das «Indianische», auf das viele weisse Amerikaner bewusst oder unbewusst besonders negativ reagieren.

Meinen Söhnen war das schon viel früher aufgefallen, als sie als Kinder hier lebten. Wenn sie in der Schweiz «Cowboy und Indianer» spielten, wollten alle Indianer sein. Denn auch den kleinsten Buben war klar: Die Indianer waren die Guten. Doch die amerikanischen Kinder sahen das genau umgekehrt, und das verwirrte sie erst einmal. Amerika ist das Land der Cowboys.

Wenn immer möglich, begleite ich Victor also zu Arztterminen, auf Ämter und zum Einkaufen, und ich ziehe mich auch «anständig» an für diese Gänge. Gummistiefel und Trainerhosen sind ein Privileg, das ich mir nicht mehr leiste. Überhaupt habe ich viel gelernt in den letzten Jahren, mehr als ich je wissen oder wahrhaben wollte.

Auch der Ausflug in den Baumarkt verlief nicht ganz ohne Hürden. Die Verkäuferin wollte Victor die gewünschte «Premium»-Qualität ausreden. «Nimm lieber die billigste Farbe, die ist die beste», sagte sie immer wieder. «Die braucht ewig, um zu trocknen, und sie deckt auch nicht richtig, du brauchst mindestens vier Anstriche!»

«Und warum ist das besser?», fragte Victor verwirrt nach.

«Na, damit du deinen Job länger behalten kannst!»

Victor lachte, als er mir das erzählte. Ich fand es weniger lustig: Konnte die Frau sich denn gar nicht vorstellen, dass Victor seine eigenen vier Wände streichen wollte? Doch dann schwieg ich. Die Annahme der Verkäuferin war realistisch, ganz unabhängig von Hautfarbe und Kleidung realistisch: Millionen haben keine Arbeit. Und wer jetzt noch einen Job hat, der klammert sich besser daran fest. Wir schwiegen beide einen Moment und dachten vermutlich dasselbe: Wir haben Glück. So was von Glück.

«Trotzdem», sagte ich dann. «Nächstes Mal komme ich wieder mit.»

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