Milena Moser
Impfneid

Das Beste, was man über die letzten elf Monate sagen kann, ist, dass ich enorm viel gelernt habe. Allerdings sind das vor allem Dinge, die ich nie lernen wollte. Dazu gehören auch neue Begriffe wie dieser: Impfneid.
Publiziert: 08.02.2021 um 06:54 Uhr
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Aktualisiert: 12.02.2021 um 15:42 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser mit ihrem Mann Victor. Sie schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben und ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Instagram
Milena Moser

Victor war empört: «Ist das nicht widerlich, was meiner Freundin Kathy passiert ist? Da verkündet sie ganz glücklich auf Facebook, dass sie ihre erste Impfdosis bekommen hat – und was passiert? Sie wird mit gehässigen Kommentaren überschüttet!»

Beschämt senke ich den Kopf und versuche unauffällig, meinen eigenen Kommentar wieder zu löschen. Denn ich bin auch eine von denen. Von den Impfneidern.

Die Pandemie hat vieles an die Oberfläche gebracht, was wir nicht wahrhaben wollten. Wie wir mit Alten und Pflegebedürftigen umgehen. Welchen Stellenwert die Kultur in unserer Gesellschaft hat, und welchen der Konsum. Ob und wieweit wir uns für das Allgemeinwohl verantwortlich fühlen und welche Einschränkungen wir bereit sind, auf uns zu nehmen. Oder eben nicht. Die Pandemie hält uns einen Spiegel vor, als Gesellschaft, aber auch als Einzelperson; und das Bild, das sich uns zeigt, ist nicht sehr schön.

Ich zum Beispiel, ich hielt mich immer für einen grosszügigen Menschen. Ich komme mit jedem aus, dachte ich. Oder wenigstens braucht es sehr viel, bis ich mich von jemandem distanziere. Bei mir kriegt jeder nicht nur eine zweite, sondern auch eine zwölfte Chance.

Jetzt aber merke ich, dass ich ganz klare Grenzen habe. Es gibt Haltungen und Handlungsweisen, die ich nicht akzeptieren und vermutlich auch nicht verzeihen kann. Auch wenn die Pandemie einmal Geschichte sein wird, glaube ich nicht, dass ich gewisse Aussagen vergessen kann. Wo ist da meine Grosszügigkeit und Toleranz?

Neid war mir bisher auch fremd. Doch seit der Impfprozess begonnen hat, erkenne ich mich nicht wieder. Ich konnte mich für keinen einzigen meiner Freunde freuen, ich missgönnte ihnen den Impfstoff, ganz so, als hätten sie sich mit fragwürdigen Mitteln genau die Dosis unter den Nagel gerissen, die für Victor bestimmt war. Egal, wo sie wohnen und wie alt sie sind. Neid ist nicht rational.

Victor hat nicht nur zwei verschiedene Herzleiden, er muss seit seiner Nierentransplantation immunsupprimierende Medikamente nehmen. Eine Erkältung wird bei ihm schnell zur Lungenentzündung, Covid-19 würde er mit Garantie nicht überleben. Er müsste eigentlich ziemlich weit oben auf der Liste stehen. Würde man denken. Und so war es ja auch vorgesehen. Doch dann änderte Kalifornien plötzlich seine Strategie. Jetzt wird strikt nach Alter vorgegangen, unabhängig von anderen Risikofaktoren. Dass also eine topfitte Yogalehrerin und Halbmarathonläuferin eher drankommt als mein Mann, nur weil sie fünf Jahre älter ist als er, das will mir nicht in den Kopf. Die Uniklinik, die ihn seit zwanzig Jahren betreut, bedauert: «Wir können Ihnen keinen Termin geben. Versuchen Sie es über die Stadt…» Ich telefoniere wild in der Gegend herum, ich tausche mich über Tipps und Tricks aus, ich setze Victor auf alle denkbaren Wartelisten, deklariere ihn auf Rat einer Freundin als «weiss» statt «Latin-x», um seine Chancen zu erhören, erwäge einen Roadtrip nach San Diego, wo sie offenbar mehr Impfstoff haben.

Victor hingegen zuckt nur mit den Schultern. «Was nützt es, wenn ich mich aufrege?», fragt er.

«Ich komme dran, wenn ich drankomme.» Also warten wir. Also streichen wir. Eine Wand, und noch eine, und noch eine.

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