Es gibt sie nicht, die heile Welt. Es gibt auch die gute alte Zeit nicht, nach der sich so mancher und manche sehnen. Der neue Krimi des mehrfach preisgekrönten deutschen Krimiautors Max Annas spielt nämlich in der Schnittmenge von beidem: in einem Bauernkaff an der deutsch-luxemburgischen Grenze in den 1970er-Jahren.
Dass der Dorfpolizist klaut, seine Verantwortung abschiebt und auch gern mal ausgiebig auf die kaum vorhandenen Brüste eines zwölfjährigen Mädchens starrt, dass Milch gepanscht wird, dass Drogen geschmuggelt werden – kaum der Rede wert, vergleicht man all dies mit den Abgründen, die sich in der vermeintlichen Idylle später auftun.
Ein Fremder stiftet Unfrieden
Zwei Mädchen, deren Versteck der Hochsitz am Waldrand ist, beobachten vieles und wenig Gutes und sind für die Erwachsenen kaum glaubwürdig; zwei sich im Wald versteckende bewaffnete Frauen haben unklare Motive; ein Mann wird auf offener Strasse erschossen; eine Frau wirft sich immer wieder absichtlich in den Bach, um sich zu verletzen; ein mysteriöser Fremder besucht Bauern in der Umgebung und bietet ihnen Fantasiepreise für ihre Höfe an. Und in den Nachrichten ist immer wieder von der Baader-Meinhof-Bande die Rede.
Mit normaler Krimischreibe hat Max Annas' Buch nichts zu tun
Kurzum: Solch einen Krimi haben Sie noch nie gelesen. Sprachlich eigenwillig literarisch verknappt erzählt und deshalb unglaublich dicht, mit einem Plot, der an den «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt anlehnt und diesen doch nie kopiert, und mit einem unglaublichen Gespür für Charakterisierung, Tempo und Kolorit. So macht man's.
Max Annas: «Der Hochsitz», Rowohlt Hundert Augen, 270 Seiten. Erscheint am 20. Juli 2021