Sind Visitenkärtli noch ein Ding? Ich hoffe es, bin nämlich grosser Fan des Konzepts. Obschon ich mir nicht ganz sicher bin, was alles drauf gehört: Name und Telefonnummer? Vielleicht noch der Beruf – über den definiert man sich in der Schweiz ja bekanntlich. Mehr hat nicht Platz.
Was wünschte ich, wäre die Zeit bei diesen winzigen Papierfetzen stecken geblieben. Ich würde dann so oft wie möglich mein Kärtli zücken, dabei unglaublich cool aussehen und es meinem Gegenüber mit einem Zwinkern in die Hand drücken, bevor ich einen Abgang hinlege.
Und ins Nichts verschwinde. Alles, was bleibt, ist dieses Zetteli. Mehr weiss die Person nicht über mich, ausser vielleicht, wie man meinen Namen schreibt.
Instagram lüftet alle Geheimnisse
Dass ich mich nicht so lässig mysteriös inszenieren kann, ist einmal mehr dem Internet geschuldet. Die Visitenkarte von heute ist das Instagram-Profil. Doch zum Handy zu greifen und mit Buggeli auf den Bildschirm zu starren, hat nicht dieselbe Eleganz. Und vor allem nichts Geheimnisvolles. Denn:
Man lernt jemanden kennen, versteht sich einigermassen, tauscht die Instagram-Namen aus. Das wars erstmal. Irgendwann postet die Person ein Bild und die verschwommene Erinnerung ans kurze Treffen kehrt zurück. Wer war das schon wieder?
Man klickt auf die digitale Visitenkarte – und startet den Tieftauchgang ins Leben des anderen. Nach Sekunden hat man anhand von Bildmenge, Filterwahl und anderen Bagatellen einen groben Eindruck gewonnen. Nach Minuten weiss man, wo sich der Mensch letztens in der Sonne gebräunt hat und dass er schrecklich tönt beim Mitgrölen am Konzert seiner Lieblingsband.
Seziert man nach einer halben Stunde noch immer das Profil der Person, stellt sich das Gefühl ein, man kenne sie seit der Grundschule. Himmel, ich empfinde manchmal echte Trauer, wenn ich mitbekomme, dass sich ein Pärli getrennt hat – obwohl ich beide hauptsächlich aus dieser App kenne.
Alle machen sich ein Scheinbild
Dabei: Kennen tue ich genau niemanden! Meine Fantasie, gepaart mit der belanglosen Selbstdarstellung der anderen, kreiert ein Scheinbild all dieser Menschen, das nichts mit der Realität zu tun hat. Und das wissen alle. Eigentlich.
Aber das vergessen wir alle auch immer wieder.
Falls Sie wissen, wo man billig Visitenkarten drucken lassen kann: Melden Sie sich! Ich bin kurz davor, mein digitales Visitenkärtli zu verbannen und analoge für meine Freundinnen und mich zu besorgen. Auf meiner würde etwas stehen wie: «Noa ohni H – mystery girl».
Noa Dibbasey (21) studiert an der Universität Bern Sozialwissenschaften. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.