Kolumne «Meine Generation» über Astrologie statt Religion
Jugend in den Sternen

Religion steht bei Jungen nicht hoch im Kurs. Dafür feiert die Astrologie ein Revival. Sie passt perfekt ins individualistische Weltbild. Fast perfekt.
Publiziert: 25.03.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 25.03.2022 um 08:09 Uhr
Astrologie passt perfekt ins individualistische Weltbild der Generation Z.
Foto: Shutterstock
Noa Dibbasey

«Dieses Leben ist so schön, wer braucht ein Leben danach?», singt Henning May in «Hurra, die Welt geht unter» – und beschreibt damit die Lebensrealität meiner Generation.

Ich kenne kaum Menschen, die sonntags noch zur Kirche gehen oder sonst wie religiös sind. Klar, ab und zu kriegt man mit, dass sich Steffi verlobt hat – kein Sex vor der Ehe und so –, aber grundsätzlich sind Religionen etwa so beliebt wie das Gendersternchen bei Ü50-Menschen.

Als vollends nihilistisch würde ich die Generation Z aber nicht beschreiben. Da ist nämlich diese Diskrepanz zwischen «uns stehen alle Türen offen, und wir geniessen den höchstmöglichen Lebensstandard» und «die Welt ist im Arsch, und hat überhaupt etwas einen Sinn?». Sie will einen doch nicht ganz ungläubig lassen.

Sorry, Skorpion geht gar nicht

Doch woran glauben? Hedonistisch leben möchte man weiterhin, und auf Verpflichtungen haben wir echt keinen Bock. Wie immer bietet das Internet Abhilfe und zaubert eine wundervolle und natürlich unverbindliche Lösung hervor: das Revival der Astrologie.

Horoskope tauchen nicht länger nur in Zeitungen auf (wie im Blick), sie sind nun überall. Apps beraten einen, ob heute ein guter Tag sei, grosse Entscheidungen zu treffen. Freunde berichten, dass sie von Flirts abgewiesen werden, weil sie Skorpione sind und «das einfach nicht kompatibel wäre». Und was ein Aszendent ist, weiss mittlerweile jede Person in meiner Altersklasse.

Die neue Obsession passt perfekt in unser individualistisches Weltbild. Die Sterne fordern nichts von uns, sie leiten uns lediglich auf dem Weg und bestätigen uns im eigenen Dasein. Ich als Wassermann bin doch ganz klar aufrichtig, charismatisch, einfallsreich, mitreissend und tolerant!

Es fehlt dann doch etwas

Doch so dankbar ich bin, dass wir viele durch Religion geprägte Fesseln abschütteln konnten – gerade meine Generation könnte von einigen ihrer Attribute profitieren.

Denn Glaubensgemeinschaften bieten vieles, was heute fehlt: ein Zusammenkommen mit Menschen, die älter, jünger, seltsamer sind als wir, die aus anderen Ecken kommen als wir. Ein regelmässiges, fast erzwungenes Sinnieren über die grossen Fragen. Und: eine Hoffnung, die zurzeit ausbleibt.

Das Unbehagen, wenn wir an den Krieg und Kriege denken, an Umweltbelastungen und all die offensichtlichen Probleme, die in der Zukunft schlummern, lässt einen oft überfordert zurück. So stimmen wir mit Henning May ein und grölen es heraus: «Hurra, die Welt geht unter!»

Noa Dibbasey (21) wuchs mit drei Religionen auf: Ihr Vater ist Muslim, ihre Mutter Christin mit jüdischem Hintergrund. In ihrem Pass ist sie konfessionslos. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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