Der Begriff ist in aller Munde: Cancel Culture. Ältere Generationen verwenden ihn meist spöttisch oder sie prophezeien anhand des Begriffs gleich den Untergang der Meinungsfreiheit.
Obwohl mich die oft überhebliche und dennoch ziemlich oberflächliche Auseinandersetzung mit der Thematik nervt, verstehe ich, dass einem die vermeintliche «Selbstjustiz» der Cancel Culture Angst einjagen kann. Man dürfe ja gar nichts mehr sagen, klagen manche.
Auch wenn es manchmal so wirken mag, stimmt das nicht. Es ist oft nur ein kleines Grüppli, das dieses Canceln konsequent durchzieht und beispielsweise keine Musik mehr von einem Künstler hört, der in Ungnade gefallen ist. Die grosse – und stille – Mehrheit vergisst nach ein paar Wochen, dass da mal was war und wippt wieder im Takt, wenn der neue Track von der Person im Radio läuft. Ausserdem: Rammstein füllt noch immer riesige Konzerthallen.
Sie können mir also schlecht verklickern, dass die Cancel Culture täglich Existenzen von bekannten Personen auslöscht. Vielmehr verstehe ich unter diesem Begriff die Grundsatzfrage, ob man Kunst und Künstler, Arbeit und Schaffende trennen will oder nicht. Das kann, darf und soll jede und jeder für sich selbst entscheiden. Das ist doch genau diese hochgelobte Meinungsfreiheit!
Den eigenen Konsum und den eigenen Support einer Person zu hinterfragen, die in einem halb-öffentlichen oder öffentlichen Rahmen etwas gesagt oder getan hat, mit dem man überhaupt nicht einverstanden ist, soll doch möglich sein. Dabei ist natürlich Selbstreflexion gefragt und stumpfes Nachplappern (in beide Richtungen) nicht sehr nützlich.
Mich beschäftigt beispielsweise momentan eine Kontroverse um die amerikanische Sängerin Lizzo, die sich für Themen wie Diversity und Body Positivity einsetzt, die auch mir am Herzen liegen. Jetzt aber sprechen ziemlich viele Beweise dafür, dass ihr privates Verhalten im Widerspruch zu ihrem öffentlichen Auftreten steht.
Was mache ich jetzt? Wo sind meine moralischen Grenzen? Lade ich ihre Musik nur noch illegal herunter, um sie finanziell nicht mehr zu unterstützen. Oder soll ich mich ganz von ihren Songs entfernen? Spielt es überhaupt eine Rolle? Mit ihrer Kunst hat sie doch so viel Gutes getan – verfällt das nun?
Ich weiss es nicht. Meinungen ändern sich ständig, und oft gibt es kein Richtig oder Falsch. Und falls doch, sind wir alle schon mal daneben gelegen – nicht nur Promis. Das Einzige, was sicher ist: In der Auseinandersetzung mit meiner Sicht der Dinge lerne ich. Und zwar am meisten über mich selbst.
Noa Dibbasey (22) studiert an der Universität Bern Sozialwissenschaften. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.