«Lass die Gedanken los, dass dieser Tag produktiv oder gut werden soll», säuselt die sanfte Stimme der Meditationslehrerin im Video «Meditation am Morgen». Seit Wochen ziehe ich mir die morgendlich rein, sitze dabei im Schneidersitz vor meinem Bett und warte darauf, dass ich zehn Zentimeter über dem Boden schwebe.
Und wenn nicht Schweben, dann wünsche ich mir mindestens einen kurzen Moment inneren Frieden. Gelassenheit. Klaren Verstand. Ich möchte ins Reine mit mir selbst kommen und mir eine Pause vom stressigen Alltag gönnen, das nennt man Selfcare (also das «zu mir selbst Sorge Tragen»). Das suche ich auch im Sport, in gesunder Ernährung und in Selbsthilfebüchern.
Glaubt mir, das alles raubt ganz schön viel Zeit. Doch meine Selfcare bewährt sich: Ich fühle mich danach stets körperlich besser, kann klarer denken und bin weniger aufgewühlt. Ziemlich gute Gründe dafür, täglich Zeit in meine Routine zu investieren, nicht?
Doch vor ein paar Tagen musste ich mir eingestehen: All diese körperlichen und geistigen Vorteile der Selfcare sind gar nicht mein wahrer Antrieb – vielmehr sind sie Mittel zum Zweck! Meine echte Motivation besteht nämlich darin, nach einer halbstündigen Meditation und einem Super-Food-Smoothie besser und vor allem mehr arbeiten zu können.
So habe ich mich, bevor ich diesen Text zu schreiben begann, extra für eine Yoga-Session eingetragen – denn danach ist mein Kopf freier. Das ist an und für sich ja nichts Schlechtes. Trotzdem hat mich diese Erkenntnis erschüttert. Ich übe ganz viel Selfcare aus – jedoch gar nie für mich selbst, sondern damit ich in dieser Welt, die so viel von mir fordert, zu funktionieren, besser zu sein und mehr Wert zu schaffen.
Die sanfte Stimme aus meiner morgendlichen Meditation wäre enttäuscht von mir. Auch ich bin es: Ich möchte mich für mich entspannen können und nicht fürs System. Ohne Hintergedanken spazieren zu gehen oder mich auf die Yogamatte stellen. Sonst bescheisse ich mich doch eigentlich nur selbst.
Aber wie ich das genau schaffe? Keine Ahnung. Zumindest weiss ich jetzt, dass ich den Gedanken an einen produktiven Tag (noch) nicht loslassen kann. Und Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Oder in meinem Fall: Zur wahren Selfcare.
Noa Dibbasey (22) studiert an der Universität Bern Sozialwissenschaften. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.