Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. So liest man, so hört man, bitte keine Gegenrede! Das Scherenbild beherrscht längst die öffentliche Diskussion über Ungleichheit. Doch es verhext unser Denken und verzerrt unsere Wahrnehmung. Die Metapher führt uns in die Irre.
Erstens stimmt es nicht, dass die einen mehr haben, weil die anderen weniger haben. Hier klingen alte ideologische Denkstereotype nach. Bei Marx steht irgendwo, dass die «Akkumulation von Reichtum» auf der einen Seite stets mit einer «Akkumulation von Elend» auf der anderen Seite einhergehe. Doch die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Im Normalfall offener Gesellschaften werden alle Beteiligten reicher – finanziell, bildungsmässig und kulturell.
Einkommen statt Vermögen anschauen
Zweitens ist der Fokus auf das Vermögen unglücklich. Denn die grössten Vermögen sind jene der Unternehmer und Investoren – und sie lagern nicht in einer Schatztruhe in deren Kellern. Sie sind vielmehr investiert, in Menschen, Maschinen und Gebäude, und schaffen damit Produkte und Dienstleistungen mit Mehrwert. Dabei gilt: Nur wer innovativ arbeitet, kann sein Vermögen halten oder mehren. Viel aussagekräftiger ist deshalb der Blick auf das Einkommen der arbeitenden Bevölkerung. Und wie sieht es da mit der Verteilung aus? Hat sich hier eine Kluft geöffnet?
Tatsache ist: Armut schwindet weltweit. In den letzten Jahrzehnten ist vor allem in China und Indien eine globale Mittelschicht entstanden, deren Einkünfte steil nach oben zeigten. In den klassischen Industriestaaten sind derweil die Einkommen der meisten angestiegen, die in Lohn und Brot stehen, wenn auch jene der Besser- noch stärker als jene der Geringverdiener. Und in der Schweiz? Hier ist die Einkommensverteilung trotz deutlichen Zugewinnen über 100 Jahre stabil geblieben. Sehr stabil sogar.
Dank Flexibilität und Durchlässigkeit
Dies zeigen wissenschaftlich validierte Daten, die das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht, und das bezogen auf die Schweiz und alle Kantone von 1917 bis heute. Die interaktive Swiss Inequality Database beruht auf offiziellen Steuerdaten und bestätigt: Die Eidgenossenschaft ist ein vergleichsweise egalitäres Wirtschaftsland, obwohl der Staat weniger umverteilt als anderswo. Dies verdankt sie in erster Linie dem flexiblen Arbeitsmarkt und einem durchlässigen dualen Bildungssystem mit Aufstiegschancen für alle.
Die Schweiz, ein Musterschüler? Das wohl nicht. Dennoch hat unser Land diesmal ein grosses Lob verdient.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern, das die Swiss Inequality Database erstellt hat. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.