Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über Folgen des Kriegs
Unsere Wohlfühl-Illusionen sind geplatzt – und nun?

Der Krieg in der Ukraine zerstört auch manche abgehobenen Vorstellungen von der Welt, denen viele nachhingen. Sie landen jetzt auf dem Boden der Realität.
Publiziert: 07.03.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 16:28 Uhr
Der Crystal Palace der Weltausstellung von 1851 in London am Tag der Eröffnung.
Foto: Getty Images
René Scheu

Ein skrupelloser russischer Autokrat droht dem Westen mit Krieg. Mittlerweile dürften auch die Letzten im Westen aus dem dogmatischen Schlummer der Naivität erwacht sein. Grosse Teile der Babyboomer-Generation und ihrer Kinder stehen vor einem Scherbenhaufen vermeintlicher Gewissheiten.

Das treffliche Bild für das Leben in der westlichen Zivilisation geht ironischerweise ebenfalls auf einen Russen zurück. Dostojewski hatte 1862 bei seinem London-Besuch den wiederaufgebauten Crystal Palace der Weltausstellung von 1851 ungläubig bestaunt und literarisch verarbeitet. Er sprach vom «Kristallpalast», und die Metapher ist stark: Die Bewohner des Treibhauses erzeugen mit der Zeit ein Binnenklima der Weltfremdheit. Von aussen jedoch zeigt sich die Konstruktion in ihrer ganzen gläsernen Zerbrechlichkeit.

Der Kristallpalast hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Gefühlslage der zunehmenden Entwirklichung geführt: zu einem Wirklichkeitsverlust. Die Bewohner haben sich in einem Wettbewerb der Frivolität laufend überboten. An die Stelle der Realität rückte eine Rhetorik, die bloss die Widersprüche übertünchte.

In der Energiepolitik. Deutschland hat die grüne Energiewende verkündet. Das Land ist zugleich der grösste Abnehmer russischen Erdgases, vor Italien und Frankreich. Und nein, das Land allein mit Windparks und Fotovoltaik zu überziehen, ist kein gangbarer Weg. Ähnliches gilt für die Schweiz.

In der Fiskalpolitik. Die meisten Staaten haben sich darauf kapriziert, Infrastruktur und sozialstaatliche Versprechen mit immer noch mehr Schulden zu finanzieren. Das hat irgendwann einen Preis, der schmerzt: Inflation.

In der Kulturpolitik. Das kulturelle Establishment hat sich an allen möglichen Untergangsszenarien ergötzt – von Untergang der Demokratie bis Untergang des Kapitalismus. Die Angstlust-Szenarien verblassen vor dem Szenario eines echten Kriegs. Das neue Zauberwort heisst: Wehrfähigkeit.

In der Gesellschaftspolitik. Der Staat hat sich als moralische Instanz inszeniert, der sich ins alltägliche Denken und Leben seiner Bürger einmischt. Seine Kernaufgabe – Schutz von Freiheit, Leben und Eigentum – hat er hingegen hintangestellt.

In der Sprachpolitik. Bis vor kurzem hätte es tagelange Shitstorms provoziert, wenn jemand von den Ukrainern als Brudervolk der Russen gesprochen hätte. Lächerlich ist nun, wenn dies einige Gender-Politikerinnen ernsthaft kritisieren.

Der Kristallpalast ist zerbrochen. Das ist trotz allem die grosse Chance – die Freiheit zeigt sich in ihrer ganzen Fragilität, und das heisst: in ihrer ganzen, grossartigen Kraft.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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