Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über politischen Moralismus
Die beste Medizin gegen die Moralflut

Ob es ums Klima geht, um Steuern oder wie wir uns ernähren – stets sind Dauerempörte zur Stelle, die aufgeregt die Moralkeule schwingen. Am besten hält man ihnen Fakten entgegen.
Publiziert: 24.01.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.01.2022 um 16:18 Uhr
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Foto: imago images
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Manche Zeitgenossen dürften schon gedacht haben: In einer verrückten Welt nicht verrückt zu werden, ist eine ziemliche Leistung. Das ist es zweifellos. Damit das menschliche Gehirn nicht endlos dreht, muss es die Komplexität der Welt reduzieren. Doch das gelingt nicht immer gleich gut.

Mitunter beginnt der Mensch zu moralisieren. Alle möglichen Sachfragen, vom Klimawandel über Steuerquoten bis zur Ernährungsweise, werden moralisch aufgeladen. Bewährte Unterscheidungen – jene zwischen richtig/falsch, schön/hässlich, vernünftig/unvernünftig – werden auf eine einzige zurückgeführt: auf die Unterscheidung zwischen gut und böse oder vielmehr zwischen den Guten und den Bösen.

Der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe, Jahrgang 1926 und weiterhin munter, prägte hierzu den Begriff des politischen Moralismus, und sein Befund könnte aktueller nicht sein. Dabei ist der Moralismus nach Lübbe keine Steigerungsform unserer Alltagsmoral, die ein halbwegs friedliches Zusammenleben erlaubt. Sie ist das Gegenteil: eine neue Pseudomoral, die zur Selbstermächtigung dient.

Woran man Pseudomoralisten erkennt

Politische Moralisten erkennt man nach Lübbe, erstens, an ihrem Sinn für die geschichtsphilosophische Selbstverortung. Sie vertreten eine Verfallsgeschichte der Gesellschaft, in der sie leben: Früher war es harmonisch, dann kam die Moderne – Industriegesellschaft, Kapitalismus, Globalisierung –, nun braucht es eine radikale Umkehr. Lübbe spricht von «Menschheitsrettungsmoral». Es geht nicht um Aufwand und Ertrag, um Szenarien oder Alternativen, es geht um alles oder nichts.

Man erkennt politische Moralisten, zweitens, an ihrer Rhetorik. Sie verstehen sich als Avantgarde einer Zukunftsmenschheit, der sie zum Durchbruch verhelfen wollen. Dabei ist klar: Wer im Namen der Menschheit spricht, braucht sich um einzelne Menschen nicht zu scheren. Der Zweck heiligt die Mittel, immer und überall.

So schnell geht die Welt nicht unter

Politische Moralisten erkennt man, drittens, am Dauerton des Empörtseins. Sie stossen sich nicht an anderen Meinungen, sondern daran, dass andere solche Meinungen überhaupt haben. Nur schlechte Menschen können an der moralischen Verwerflichkeit der heutigen Welt zweifeln – mit ihnen diskutiert man nicht, man blickt auf sie herab.

Die beste Therapie gegen den Politmoralismus? Fakten wie diese: Die Menschen auf der ganzen Welt werden immer älter. Sie leben gesünder. Sie handeln umweltbewusster. Immer mehr Menschen haben Zugang zu Wissen. Der medizinische Fortschritt ist atemberaubend.

Es sieht ganz so aus, als werde die industrialisierte Welt nicht so schnell untergehen – trotz dem Geschrei von dauerempörten politischen Moralistinnen und Moralisten.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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