Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über Selbsterhöhung
Warum Putin so gefährlich ist

Ist der russische Präsident krank? Eher: gekränkt. Vor allem ist Wladimir Putin durch völlig andere Impulse angetrieben als die Leader des Westens.
Publiziert: 21.03.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 26.03.2022 um 16:23 Uhr
Der russische Präsident Wladimir Putin feierte am 18. März mit Tausenden von Besuchern den Jahrestag der Krim-Besetzung im Luschniki-Stadion in Moskau.
Foto: Getty Images
René Scheu

Mein Vater, ein belesener Automechaniker und Ein-Mann-Garagist, war überzeugt: die russische Armee würde Westeuropa überfallen. Geprägt vom Ost-West-Konflikt, machte er nie ein Geheimnis daraus, ein kalter Krieger im Geiste zu sein.

Der Feind in den militärischen Trockenübungen hiess damals Rotland. In der Bibliothek meines Vaters standen Bücher über die russische Seele, mitunter ein zerlesenes Exemplar von «Der Archipel Gulag». Den Autor Alexander Solschenizyn kannte bei uns in den 70er-Jahren fast jedes Kind.

Doch auch als der Kalte Krieg vorbei und die Mauer längst gefallen war, hörte mein Vater nicht auf, von der Bedrohung aus dem Osten zu reden. Die Russen, meinte er, haben anders als die Westeuropäer ein langes Gedächtnis. Und er sagte mir: Die Russen sind verletzt. Sie haben noch Rechnungen mit dem Westen offen. Diese Geschichte ist nicht zu Ende.

Haben-Wollen vs. Gelten-Wollen

Die Worte meines Vaters kamen mir in den Sinn, als ich 2018 an der Stanford University weilte. Ich hatte eben Francis Fukuyama interviewt, den Autor von «Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch», dem meistzitierten, aber zugleich am wenigsten gelesenen Buch der vergangenen 50 Jahre. Fukuyama erläuterte mir, wie Russland am Aufrüsten sei, um seine neuen politischen Ambitionen zu unterstreichen. Das grösste Land der Welt war plötzlich wieder wer. Und dann fiel der Satz: «Putin ist ein Thymos getriebener Leader.»

Was ist Thymos? Nach Fukuyama hat der Mensch zwei Antriebskräfte: das Begehren oder Haben-Wollen (griechisch Eros) und das Anerkanntwerden oder Gelten-Wollen (griechisch Thymos). Im Westen überwiegen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die erotischen Impulse: Eigeninteresse, Selbsterhaltung, Gesundheit, Sicherheit, Frieden. Das Gelten-Wollen zeigt sich bloss noch in vereinzelten Aufwallungen nationalistischer, ökologischer oder identitätspolitischer Art. Anders im Osten, wo thymotische Energien dominieren: Selbstwertgefühl, Anwandlungen von Stolz, Heroismus, Nationalbewusstsein und Machtpolitik bis hin zu imperialen Ambitionen.

Von Putin I zu Putin II

Putin I war westlich orientiert – und liebäugelte einst sogar damit, Russland in die Nato zu führen. Der Versuch misslang. Putin II hingegen ist gekränkt und thymotisch motiviert. Die Selbsterhaltung zählt nichts, die Selbsterhöhung hingegen alles. Der russische Aggressor ist insofern weder krank noch irrational, sondern tickt einfach anders. Das sollten die Eros getriebenen westlichen Leader in der Konfrontation mit dem Thymos getriebenen Putin unbedingt bedenken – und am besten Fukuyama nun doch noch lesen.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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