Aufklärung – was für ein wunderbarer Begriff, was für ein strahlendes Ideal! Alle Menschen arbeiten gemeinsam daran, Licht ins Dunkel unserer Welt zu bringen. Mythen zu entlarven. Wissen zu schaffen. Bullshit als solchen zu benennen. Und dadurch Fortschritt für uns alle zu erzielen, um (noch) freier und besser zu leben.
Immanuel Kant, der deutsche Starphilosoph, definierte die Aufklärung einst als «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit». Es ist eine epochale Formulierung. Aufklärung setzt für Kant zwei Dinge voraus. Erstens mündige Menschen, die Wahrhaftigkeit über Betroffenheit setzen und sich eine eigene Ansicht leisten. Zweitens einen öffentlichen Raum, ein Trainingscamp der menschlichen Vernunft, in dem alle furchtlos bekunden, was sie denken.
Dabei setzt das Öffentliche das Private voraus: Im Privaten wälzt der Mensch Gedanken und bildet Meinungen, ohne dass jemand etwas davon erfährt. Diese trägt er dann in die Öffentlichkeit, um sie zur Diskussion zu stellen.
Dem Diktat des Stamms unterworfen
Das Private ist jedoch im 21. Jahrhundert tot – nicht die Menschen haben es getötet, sondern die Technik. Das Netz zeichnet und bewahrt alles auf, was wir notieren, meinen, mögen oder verabscheuen. Ja, was wir denken, noch bevor wir es kommunizieren. Big Internet is recording you. Und selbst wenn wir uns mal von allen digitalen Geräten entkoppeln, ist da womöglich jemand, der uns gerade mit seinem Smartphone filmt.
Doch wo es nichts Privates mehr gibt, ist auch Öffentliches passé. Stattdessen herrscht überall eine neue Art der Halböffentlichkeit: Alles, was der Einzelne erst in Ansätzen denkt, fühlt, mag oder zeigt, wird dokumentiert und gleich archiviert. Die (harte) Konsequenz: Der Mensch entwickelt sich vom Individuum, das er ein paar Jahrhunderte lang darstellte, zurück zum Horden- und Stammeswesen, das er jahrtausendelang war. Er sagt nicht mehr, was er denkt, sondern das, von dem er glaubt, dass es seine Stammesoberen denken. Irgendwann weiss er selber nicht mehr, was er eigentlich denkt – selbst verschuldet beugt er sich dem Diktat des Stamms. Kant hatte recht: «Es ist so bequem, unmündig zu sein.»
Zurück in die tierische Vergangenheit
Der Mensch, der sich im 21. Jahrhundert als der grosse Individualist feiern lässt, wird zum Konformisten, der er nie mehr sein wollte. Das Internet, das die Menschheit zu befreien versprach, führt sie zurück in ihre dunkle, tierische Vergangenheit.
Lässt sich dieser Rückfall stoppen? Vielleicht – hoffentlich mit einer zweiten Aufklärung. Sie muss erst noch begründet werden.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.