Vergebung ist ein grosses Wort, gerade im religiösen Kontext. Leider begnügen sich die Menschen, die den Begriff benutzen, damit, den Begriff zu benutzen. Sie sagen: «Du musst vergeben», als wäre das nicht nur ein Ziel, sondern auch eine für alle verständliche Wegbeschreibung.
Und dann sitzen die Leute da, wie Sie jetzt, und fühlen sich schlecht, weil sie keine Ahnung haben, wie das nun genau gehen soll mit dem Vergeben. Zu sagen: «Ich vergebe dir», funktioniert schon mal nicht, weil man den Mut aufbringen müsste, das der betreffenden Person ins Gesicht zu sagen. Und diese möglicherweise überhaupt keinen Anlass sieht, dass ihr irgendjemand etwas vergeben müsste.
Mehr Meyer rät
Vergeben bedeutet, sich von allen schmerzhaften Emotionen zu befreien. Und das wiederum tun Sie, indem Sie einen Ort aufsuchen, an dem Sie ungestört fluchen können. Der Hobbykeller bietet sich da an, aber auch der Wald oder das Auto. Und dann werfen Sie Ihrem Vater alles an den imaginären Kopf, was Sie ihm eben an den Kopf werfen möchten. Das mag sich anfangs seltsam anfühlen, aber nach den ersten paar Kraftwörtern wird alles aus Ihnen herausbrechen, von heute bis zurück zu Ihrer Geburt.
Schimpfen Sie, erheben Sie Vorwürfe, klagen Sie an, verurteilen Sie voller Leidenschaft! Sie müssen nicht «drüber stehen» oder so was, im Gegenteil, Sie sollen restlos jeden Funken von unangenehmem Gefühl aus sich hinausfegen!
Macht das irgendetwas ungeschehen? Nein. Aber es befreit Sie von einer alten, schweren, hässlichen Last. Und es ermöglicht Ihnen, Ihrem Vater nicht länger als verletztes Kind zu begegnen.
Es bleibt in diesem Sinn die Frage, wie sich der künftige Kontakt gestalten soll. Wie oft wollen Sie Ihren Vater sehen und hören? Was Ihnen dazu spontan einfällt, ist Ihre Wahrheit, und die dürfen Sie genau so leben.