Familie hat auch an Weihnachten kein Verständnis – Thomas Meyer rät
Sie sind in falscher Gesellschaft

Ich (w, 34) bin Vegetarierin. Jedes Jahr gibt es Streit, weil meine Familie beim Weihnachtsessen nicht auf Fleisch verzichten will. Am Ende esse ich die Beilagen.
Publiziert: 19.12.2020 um 16:53 Uhr
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Aktualisiert: 12.02.2021 um 15:47 Uhr
Thomas Meyer, Schriftsteller.
Foto: Thomas Meier
Thomas Meyer

Fleischesser betrachten das Fleischessen als menschliches Grundrecht und verteidigen es entsprechend leidenschaftlich. Weder für die Tiere noch für die Natur noch für ihre Mitmenschen mögen sie darauf verzichten, keinen einzigen Tag lang, und an Weihnachten erst recht nicht, das ist nämlich ein Fest und verlangt nach einem entsprechenden Essen, basta.

Kommt aber die Familie zusammen, sollte nicht das Majorzsystem zur Anwendung gelangen, bei dem sich die Unterlegenen eben mit ihrer Niederlage zu arrangieren haben, sondern das Prinzip der Gemeinsamkeit. Und das funktioniert in diesem Fall so: Sie mögen kein Fleisch, also kommt kein Fleisch auf den Tisch, sondern für alle dasselbe vegetarische Gericht. Ansonsten zwingt man Ihnen zwei unbefriedigende Alternativen auf: Entweder fügen Sie sich und essen ebenfalls Fleisch, oder Sie füllen, wie Sie es erwähnen, Ihren Teller mit den Beilagen. In beiden Fällen hat man Sie geringgeschätzt, aus purem Egoismus und obendrein aus mangelnder Fantasie.

Es gibt nämlich zahllose Möglichkeiten, ein schmackhaftes, festliches Menü ohne Fleisch zuzubereiten, was aus Rücksicht Ihnen gegenüber geschehen würde, als bewusster Akt der so gern zitierten, aber so selten gewährten Nächstenliebe: Wir essen heute vegetarisch, weil wir eine Vegetarierin zu Gast haben. Genauso wie man nicht raucht, wenn ein Nichtraucher am Tisch sitzt, und Englisch spricht, wenn jemand kein Deutsch versteht. Es ist eine simple Anstandsfrage, und wenn Sie Ihrer Familie diesen Anstand nicht wert sind, nicht einmal an Weihnachten, sollten Sie sich überlegen, ob Ihre Anwesenheit überhaupt einen Sinn ergibt. Sie sehen ja, wie ernst man Sie nimmt und wie gross die allgemeine Bereitschaft ist, sich Ihnen zuliebe zurückzunehmen. Ist das wirklich die richtige Gesellschaft für Sie?

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