Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Übrigens ist unser Bundeshaus eine Kopie des Kapitols

Die Ausschreitungen in Washington zeigen, wie verletzlich Demokratie und Rechtsstaat sind. Auch in der Schweiz muss jedem bewusst sein, dass eine gelingende Demokratie nicht gottgegeben ist.
Publiziert: 10.01.2021 um 09:44 Uhr
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Aktualisiert: 10.01.2021 um 09:45 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer

Eine Tausendschaft fanati­sierter Trumpisten stürmte am Mittwoch das Kapitol in ­Washington. So sehr die Bilder nach wie vor schockieren – überrascht haben sie nicht. Selten hatte ein Drama eine derart klare Ansage.

Bereits Monate vor seiner Wahlniederlage am 3. November ­begann Donald Trump die Legende vom grossen Betrug zu spinnen. ­Er ­erzählt den Irrsinn noch heute, doch bis Mitte dieser Woche wagte kein Republikaner von Rang, offen zu widersprechen. Wie seine ­Parteifreunde überhaupt während vier Jahren so taten, als gingen sie die Hetze und Lügen des Prä­sidenten nichts an. Sie fürchteten Trumps Zorn, sie fürchteten die Wähler. So haben sie eben pro­fitiert statt protestiert – und sich schuldig gemacht. Es ist eine ­besonders
krasse Inszenierung von Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter».

Man braucht sich denn auch nichts vorzumachen: Wenn sich die re­pu­blikanischen Biedermänner jetzt vom roten Hahn im Weissen Haus lossagen, liegt das nicht ­allein an der Schändung des Kapitols. Sie tun dies, weil Trump kein Garant mehr ist für Erfolg. Das zeigte sich ebenfalls diese Woche bei den Wahlen im Südstaat Georgia: Die Republikaner verloren ihre dortigen Senatssitze und sind fortan in beiden
Parlamentskammern in Washington in der Minderheit.

Trotzdem wäre es naiv, einfach auf die selbstreinigenden Kräfte der ­Demokratie zu vertrauen und
da­rüberhinaus nichts zu tun. Die Ausschreitungen vom Mittwoch führen vor Augen, wie verletzlich Demokratie und Rechtsstaat sind – zumal in einer Zeit, da für eine wachsende Zahl von Menschen der Kuchen kleiner wird.

Echte Demokratie funktioniert nur in einer stabilen Gesellschaft. Doch gerade in den Vereinigten Staaten läuft das soziale Gefüge nicht erst seit Corona aus dem Leim. Zwischen 1979 und 2019 verdreifachte sich dort das Bruttosozialprodukt. Die Reallöhne freilich stagnierten oder sanken ­sogar, derweil die Gewinne in die Tasche einiger weniger wandern. Solange diese Entwicklung anhält, bleiben die Brandstifter eine ­Gefahr. Ob sie nun Trump heissen oder anders.

Wie weit liegt die Schweiz von ­Amerika entfernt? Die Pandemie schlägt Schneisen in Gesellschaft und Wirtschaft. Und ja: Zumindest gezeuselt wird auch bei uns seit ­langer Zeit. Als er SVP-Präsident war, sprach Ueli Maurer von den ­politischen Gegnern stets als dem «Feind». Der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner wählt in ­seinen Mitteilungen gern die Formulierung «Schweizer, erwache» – was ähnlich tönt wie das «Deutschland, erwache» der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren.

Gewiss: Als Bundesrat leistete sich Maurer keine Entgleisungen mehr wie einst als Parteichef. (Er begnügte sich damit, Trump bei seinem ­Besuch in Washington den Ruag-Slogan «Together ahead» ins Gästebuch zu schreiben.) Und als SVP-Präsident amtet heute ein gmögiger Tessiner Ständerat, der in Interviews hauptsächlich seine eigenen Sprachkenntnisse lobt. Vor allem aber ist es so, dass der Kuchen in der Schweiz ­ immer noch riesig ist – er gehört zu den grössten der Welt – und auf ­unseren Sozialstaat alles in allem weiterhin Verlass ist.

Trotzdem muss jedem bewusst sein, dass eine gelingende Demokratie auch bei uns nicht gottgegeben ist. Als die Gründer des Bundesstaates National- und Ständerat schufen, kopierten sie das Zweikammersystem der USA. Und als der Architekt Hans Wilhelm Auer das Bundeshaus mit den beiden Flügeln und der grossen Kuppel konzipierte – da orientierte er sich selbstverständlich am Kapitol in Washington.

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