Amerika hat widerstanden. Das ist gut. Amerika war gezwungen zu widerstehen. Das ist schlecht.
Ein Umsturzversuch hat stattgefunden. Unter Führung des amtierenden Präsidenten. Unvorstellbar. Aber wahr.
Weshalb wurde das Unvorstellbare Tatsache?
Ja, Donald Trump ist eine abnorme Persönlichkeit, ein offensichtlich krankhafter Narzisst. Er war nicht in der Lage, seine Abwahl zu akzeptieren. Für ihn bedeutete dieser höchst normale demokratische Vorgang eine tiefe Kränkung.
Aber genügt dies als Erklärung?
Aufgehetzt und zynisch instrumentalisiert von dem chaotischen Charakter im mächtigsten Amt des Globus stürmten Demonstranten das Kapitol in Washington, ein Denkmal der Demokratie. Ausser Frage steht: Sie verkörperten Überzeugungen und Gefühle von Abermillionen Amerikanern.
So fand zusammen, was nicht zusammenkommen darf: Machtbesessenheit und Ohnmachtsgefühle – hochexplosiv.
Ohnmachtsgefühle? Nicht allein die kriminelle Meute, die den Sturm aufs Kapitol inszenierte, steht hinter Donald Trump. Es sind auch enttäuschte, erschöpfte, empörte Bürgerinnen und Bürger, die sich durch die Abwahl ihres Idols in die politische Ohnmacht zurückgestossen fühlen.
Für sie ist das Resultat des 3. November 2020 unerträglich, inakzeptabel – ein Betrug. Dass dieses Wahlergebnis aus einer korrekten Stimmabgabe hervorgeht, macht den Betrug in den Augen derer, die sich als Betrogene fühlen, umso grösser, umso unfassbarer:
Die ganze Demokratie ist für sie Betrug.
Ist aber die ganze Demokratie Betrug, sind die Bürgerinnen und Bürger, die an ihr festhalten, indem sie deren Wahlresultate respektieren und die Regeln des demokratischen Rechtsstaats befolgen: Feinde.
Darauf gründet der Populismus: auf Feindschaft.
Der Staatsrechtler Carl Schmitt, Kronjurist der Nazis und Rechtfertiger von Hitlers Schreckensregime, definierte Politik als «Unterscheidung von Freund und Feind». Nach Schmitts katholisch-faschistischer Lehre «ist souverän, wer über den Ausnahmezustand entscheidet».
Lässt sich Donald Trumps Staatsverständnis treffender beschreiben?
Lässt sich das Prinzip des Populismus präziser in Worte fassen?
Was sich am Mittwoch in Washington abspielte, ist nicht auf die USA beschränkt. Versuche, das demokratische System des friedlichen Streits zwischen einander achtenden Gegnern zu zerstören und durch einen Kampf – einen Krieg – Freund gegen Feind zu ersetzen, sind auch in Europa zu beobachten, von den Mittelmeerländern bis nach Skandinavien, von Ost-Mitteleuropa bis an den Atlantik.
Die Demokratie kennt ihre Gefährder: Populisten, aktuell meist von rechts, aber nicht zwangsläufig und nicht ausschliesslich.
Was sind die Gründe für Erfolge, wie sie der US-Präsident sogar in den eben erst verlorenen Wahlen noch einheimsen konnte? Es ist der Zorn von Millionen Menschen, die sich von der herrschenden Demokratie-Elite übergangen fühlen, von deren selbstgefälligen Medien missachtet, abgefertigt mit sozialstaatlichen Zuwendungen, in den USA nicht einmal das.
Die offene Gesellschaft des Westens hat ein gewaltiges kulturelles Problem: die elitäre Arroganz einer wortmächtigen, Globalesisch sprechenden Schicht gegenüber Millionen nicht nur verbal Ohnmächtiger.
Die Stimme dieser Sprachlosen war vier Jahre lang Donald Trump – ein Sprachwüterich, ein cholerischer Egomane, widersprüchlich, manchmal trotzdem zielsicher, in der Regel aberwitzig und jenseits aller staatspolitischen Vernunft, vor allem unversöhnlich gegenüber seinem grössten Feind: dem Obama-Amerika.
Was hat Barack Obama falsch gemacht? Hat er überhaupt etwas falsch gemacht? In den Augen seiner Anbeter diesseits und jenseits des Atlantiks wandelte er doch übers Wasser!
Durch die Tümpel der deklassierten Trumpianer watete der brillante Harvardianer nie.
Über Jahre hinweg herrschte eine Bussi-Bussi-Kultur in den Milieus der Macht, in denen die Demokratie durchaus kompetent verwaltet wurde: Macron küsste Merkel küsste Obama, Ministerinnen und Minister umarmten einander, nachdem sie sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf roten Teppichen entgegengetänzelt waren.
Welcher einfache Mensch darf Macron oder Merkel oder Obama küssen? Welcher einfache Mensch fühlt sich zugehörig zur selbstbezogenen Klasse der Staatsbesorger?
Könnte es sein, dass den Ausgeschlossenen förmlich Abbitte geleistet werden müsste von denen, die den gesellschaftlichen «Diskurs» bestimmen – bewusst jeden ausschliessend, der nicht weiss, was mit diesem gespreizten Begriff gemeint ist?
Es könnte sein.