Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Der Bundesrat fährt die Europapolitik gegen die Wand

Der Bundesrat scheint gewillt, das Projekt Rahmenvertrag zu beerdigen. Das Wort «Abbruch» soll vermieden werden, verwaltungsintern spricht man von «Einfrieren» und «Denkpause» – als ob vorher jemand gross nachgedacht hätte.
Publiziert: 21.03.2021 um 11:45 Uhr
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Aktualisiert: 27.03.2021 um 23:31 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer

Warum eigentlich ist Ignazio Cassis nie selbst nach Brüssel gereist, um bei den Verhandlungen für ein Rahmenabkommen das Optimum für die Schweiz herauszuholen?

Klar: Vielleicht hätte nicht einmal unser Aussenminister höchstpersönlich mehr erreicht als seine Unterhändler. Dann hätten wir aber zumindest letzte Gewissheit darüber gehabt, was machbar ist. Wäre Cassis dagegen zufrieden gewesen mit seinem Ergebnis, hätte er die stolze Botschaft in den Abstimmungskampf tragen können: Schaut her, ich habe mein Bestes gegeben und das Beste herausgeschlagen – diesem Vertrag kann man guten Gewissens zustimmen!

Unter Umständen ist das Rahmenabkommen ja auch gar nicht so schlecht, wie jetzt behauptet wird. Allerdings stand immer fest, dass es ein solches Dokument an der Urne schwer haben würde. Denn seine Gegner können bei jedem denkbaren Verhandlungsresultat das populärste Argument auffahren, das unsere Politik bereithält: den Mythos von der grenzenlosen nationalen Souveränität.

Um diesem suggestivsten aller Bilder etwas entgegenzusetzen – allein dafür hätte es das Foto eines entschlossen dreinblickenden Ignazio Cassis am Verhandlungstisch mit EU-Präsidentin Ursula von der Leyen gebraucht.

Leider nur hat sich Cassis in Brüssel nicht blicken lassen. Stattdessen hat er sich hinter seinen Staatssekretären versteckt. Und die übrigen Bundesräte haben sich hinter Cassis versteckt.

Heute nun, da man das Abkommen im Inland erklären und verteidigen müsste, wagt sich natürlich erst recht niemand aus der Deckung. Wer will schon sein politisches Schicksal an eine Übereinkunft mit der ungeliebten EU knüpfen, der noch dazu der Makel des Unentschlossenen anhaftet?

Wie mein Kollege Reza Rafi im neuen SonntagsBlick schreibt, plant die Landesregierung, den Rahmenvertrag zu beerdigen. Das Wort «Abbruch» soll vermieden werden, verwaltungsintern spricht man von «Einfrieren» und «Denkpause» – als ob vorher jemand gross nachgedacht hätte. Etwa darüber, welche gravierenden Folgen ein Scheitern dieses Grossprojekts mit sich bringt. Ohne institutionellen Rahmen werden die heutigen bilateralen Verträge nicht mehr aktualisiert – nach und nach wird die Eidgenossenschaft in allen möglichen Bereichen nicht mehr kompatibel sein mit ihren Nachbarn.

EU-Skeptiker ficht das nicht an. Sie streben nach weit entfernten Ufern. Neuer Held der Bewegung ist der Zuger Finanzmanager Alfred Gantner, Gründer von Kompass/Europa – einem Verein, dessen einziger Daseinszweck darin besteht, das Rahmenabkommen zu bekämpfen. Diese Woche hat Gantner in einer Gesprächsrunde in Bern erklärt, welche Art von Schweiz ihm vorschwebt: «Ich glaube, dass es sehr gute Beispiele gibt für kleine Staaten, wie zum Beispiel Singapur, die sich erfolgreich ausserhalb der grossen politischen Blöcke entwickeln können.»

Singapur ist ein autoritär geführter Inselstaat von der Fläche des Kantons Glarus. Die wichtigsten Firmen dort sind staatlich kontrolliert. Ist das wirklich die Zukunft, die Alfred Gantner für die Schweiz herbeisehnt?

Oder spielt er darauf an, dass Singapur zu den führenden globalen Finanzzentren gehört? Dann lohnt sich die Lektüre eines weiteren Artikels im neuen SonntagsBlick ganz besonders. Wirtschaftsredaktor Danny Schlumpf berichtet, wie sich zehn Jahre nach Abschaffung des Bankgeheimnisses erneut amerikanischer Druck auf den Schweizer Finanzplatz aufbaut. Trotzdem soll unser Land mehr denn je – eben nach dem Vorbild Singapurs – auf diese Karte setzen?

Der Bundesrat scheint gewillt, das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union zu Grabe zu tragen. Wir alle können nur hoffen, dass er uns für diesen Fall eine bessere Strategie präsentieren wird, als Singapur zu folgen.

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