Fix zur Gesellschaft
Hilfe, all diese Menschen!

Unsere Autorin erschreckt ihre plötzliche Sozialphobie. Sie vermutet: Corona hat uns vielleicht anfangs solidarisch gemacht, aber am Ende dann doch intolerant.
Publiziert: 29.05.2021 um 17:56 Uhr
Alexandra Fitz

Im letzten Frühling sprachen alle von Solidarität. Ich meinte auch, sie überall wahrzunehmen. Nun habe ich das Gefühl, Reizüberflutung und Intoleranz machen sich breit. Woran ich das festmache? Die Frage ist wohl eher: An wem? An mir selbst.

Es fühlt sich manchmal so an, als ob man alle Gepflogenheiten im «Aussen» wieder von Neuem lernen muss. Was nehme ich mit, wenn ich das Haus verlasse? Geldtasche, Schirm, Maske. Wie verhalte ich mich gegenüber Mitmenschen? Wer vermehrt zu Hause gearbeitet hat, war in den eigenen vier Wänden vor «den anderen» geschützt. Es fühlt sich deshalb manchmal so an, als würde man nach einer Apokalypse auf anderes menschliches Leben stossen. Das erste Mal seit langem.

So fahre ich nun wieder – Gottseidank – regelmässig physisch zu Interviews. So wie letzte Woche nach Kreuzlingen im Thurgau. Eineinhalb Stunden Zugfahren mit Maske isch scho ned so geil. Aber was noch mehr provoziert: Kaum sind die Leute abgesessen, müssen sie essen. Nahrungsaufnahme – puhh, ein Grund, die Maske unter das Kinn zu schieben. Kaum eingestiegen, öffnet eine junge Frau ihren Take-away-Napf. Tofu, Curry, Reis. Sie bricht die Stäbchen auseinander und schaufelt den Topf leer, bevor der Zug losrollt.

Im Regionalbähnli dann sitzt ein älterer Herr, der ständig die Nase hochzieht. Ich möchte sagen: «Kasch bitte ufhöre» und denke stattdessen an meine Kindheit. Ich hatte so eine Angewohnheit, mir mit der flachen Hand die Nase hochzustreichen. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, ob ich zu faul war für ein Taschentuch oder ob es ein Tick war. Vater nervte sich unendlich darüber und sagte stets: «Hör auf, das bleibt sonst.» Papa, es blieb nicht, aber ich versteh dich heute besser denn je, es nervt. Der Zuggast nervt. Ich dreh mich um. Und natürlich trägt er die Maske nur über Mund und Schnauzer. Die Nase muss ja frei sein, fürs Raufrotzen. Von den Maskenverweigerern im ÖV hatten wir es noch gar nicht, und von den Schiefanziehern auch nicht. Ich sags ja, so viel Reizüberflutungs-Potenzial.

Die Rotznase hinter mir, die Tofu-Tante nebenan, alles ekelt mich an. Ich blicke aus dem Fenster, sehe die vorbeiziehenden Rapsfelder und will nur eines: heim, in meine eigenen vier Wände. Ich muss mich wohl erst wieder an die Spezies Mensch gewöhnen. Dann krame ich in meiner Tasche, hole meine selbst gemachten Sommerrolls raus und beisse rein.

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