Vor über 100 Jahren beobachtete der russische Forscher Iwan Petrowitsch Pawlow, dass Hunde bei der Fütterung mehr Speichel produzieren. Als er begann, kurz vor der Fütterungszeit regelmässig eine Glocke zu läuten, sabberten seine Versuchshunde schon bald bereits beim Klingelton. Dieser sogenannte Pawlowsche Reflex beruht auf Konditionierung: Die Hunde hatten gelernt, die natürliche, angeborene Reaktion auf baldiges Futter auch bei einem anderen Reiz – in diesem Fall dem Glockenklang – zu zeigen.
Auch Menschen lassen sich konditionieren. Wenn wir etwa ein Foto von einem Zitronenschnitz sehen und uns vorstellen, da hineinzubeissen, bekommen wir unweigerlich einen wässrigen Mund. Denn die Erfahrung, dass ein echter Zitronenschnitz sauer schmeckt und es deshalb viel Flüssigkeit braucht, um den starken Geschmack zu neutralisieren, sitzt tief.
Dieses Phänomen wollen sich Ärzte künftig in der Medizin zu Nutze machen. So könnten kranke Menschen womöglich mit kleineren Dosen an Medikamenten auskommen, wenn sie die Wirkung der Tablette oder Spritze bereits kennen. «Die Erwartungshaltung der Patienten spielt eine wichtige Rolle dabei, wie wirksam eine Therapie ist», sagt Ulrike Bingel, Neurologin an der Universität Essen. Sie wies in einer Studie zum Beispiel nach, dass Probanden weniger empfindlich reagierten, wenn sie mit heissen Gegenständen am Vorderarm berührt wurden, während man ihnen eine Infusion mit Kochsalzlösung verabreichte, die sie für ein potentes Schmerzmittel hielten. Auch konnten Bingel und ihr Team zeigen, dass ein Opioid – also ein starkes Schmerzmittel – doppelt so gut wirkt, wenn man eine positive Erwartung hat. In einer weiteren Studie wies die Forscherin nach, dass Schmerzmittel auch dann einen stärkeren Effekt haben, wenn es die Probanden bereits früher genommen hatten und sich an die positive Wirkung erinnerten. Dabei handelt es sich keineswegs um Hokus-Pokus: Mit Verfahren wie der Magnetresonanztomographie, welche die Vorgänge im Gehirn abbildet, können Wissenschaftler zeigen, dass teilweise dieselben Hirnareale aktiv sind wie bei echten Medikamenten.
Grüner Drink für Nierentransplantierte
Diese Effekte lassen sich vielleicht dereinst gezielt für die Behandlung von Krankheiten nutzen. Das zeigt zum Beispiel Manfred Schedlowski in seinen Experimenten. Der deutsche Professor gehört gemeinsam mit Ulrike Bingel und anderen Forschenden dem Kompetenznetzwerk Placebo an, das aktuellste wissenschaftliche Erkenntnisse der Praxis zugänglich machen will. Schedlowski will herausfinden, wie man erwünschte Placebo-Effekte mittels Konditionierung steigern kann. Auf diese Weise möchte er beispielsweise die Situation für Menschen mit einem transplantierten Organ verbessern. Damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstösst, müssen sie nämlich sogenannte Immunsuppressiva einnehmen, die das Abwehrsystem unterdrücken. Das Problem ist aber, dass dabei die Anfälligkeit auf Infektionen steigt und die starken Mittel das Organ selber angreifen. Die Lebensdauer einer transplantierten Niere beträgt deshalb in der Regel nur acht bis zehn Jahre.
Um die Dosierung der Immunsuppressiva und damit auch die negativen Begleitsymptome zu reduzieren, hat Schedlowski ein Getränk mit einem sehr ungewöhnlichen und unangenehmen Geschmack zusammengemixt. Es besteht aus Erdbeermilch, Lavendelöl und grüner Lebensmittelfarbe, schmeckt gleichzeitig süss und bitter und hat eine cremige Konsistenz. Diese eigentümliche Kombination, die einem sonst nirgendwo begegnet, erhöht die Chancen, dass die Konditionierung funktioniert.
In einer kürzlichen Studie mit 30 Teilnehmern, die über das Vorgehen aufgeklärt waren, konnte der Forscher zeigen, dass die Wirksamkeit des Immunsuppressivums mit dem Drink gesteigert werden kann. In einer ersten Phase von drei Tagen nahmen die Probanden ihn zweimal täglich zusammen mit dem regulären Medikament ein. Durch den sehr speziellen, bisher unbekannten Geschmack des grünen Drinks versuchte der Forscher, im Gehirn der Probanden eine möglichst starke Verbindung mit der erwünschten Wirkung zu erzeugen. «Der völlig neuartige Reiz löst beim Immunsystem einen Lerneffekt aus», erklärt Schedlowski. Später erhielten die Probanden eine Woche lang zweimal täglich zusätzlich Placebo-Medikamente, die auch als Placebos gekennzeichnet waren – stets in Kombination mit der grünen Erdbeermilch. Dabei untersuchten die Forschenden die Blutwerte. Und tatsächlich: Sie konnten nachweisen, dass die Wirkung des Immunsuppressivums bei gleicher Dosis besser ausfiel. Die Tests zeigten auch, dass die Nebenwirkungen dabei etwa gleich stark blieben.
Hilfe für Parkinson-Patienten
Ähnliche Erfahrungen machte Placebo-Forscher Fabrizio Benedetti von der Universität Turin in einer Studie mit Parkinson-Patienten. Betroffene leiden an einem fortschreitenden Defekt von Gehirnzellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren. Sie zittern, leiden an Muskelstarre und sind in ihren Bewegungen eingeschränkt. In der Behandlung versucht man, das fehlende Dopamin mit Medikamenten zu ersetzen oder dessen Produktion anzuregen. Jedoch nimmt die Wirkung der Medikamente mit der Zeit teilweise ab, weshalb viele Patienten sie in immer kürzeren Abständen einnehmen müssen. Deshalb ist es wünschenswert, von Anfang an möglichst niedrige Dosen verabreichen zu können. Ein weiterer Behandlungsansatz sind Stimulationen mittels ins Gehirn implantierten Elektroden. Diese gaben Benedetti die seltene Gelegenheit, bei seinem Versuch die Aktivität spezieller Nervenzellen zu messen.
Er verabreichte 42 Probanden, die sich einer für die Gehirnstimulation nötigen Operation unterzogen, eine Injektion mit Kochsalzlösung, also ein Placebo. Die Teilnehmer gingen jedoch davon aus, dass es sich um einen Dopamin-Ersatzstoff handelte. Dabei zeigte sich, dass Probanden ohne Vorerfahrungen mit dem Medikament nicht auf das Placebo reagierten. Diejenigen aber, die bereits während einiger Tage das richtige Medikament kennengelernt hatten, zeigten eine gesteigerte Gehirnaktivität. Ein nicht eingeweihter Neurologe stellte zudem eine geringere Muskelstarre fest. In diesem Fall schien die reine Erwartungshaltung nicht auszureichen, um die erwünschte Symptomlinderung hervorzurufen. Es brauchte dafür die positive Vorerfahrung, bei der das Gehirn gelernt hatte, auf den Stimulus zu reagieren, also eine Konditionierung. Der Effekt hielt jedoch auch bei jenen, die eine Reaktion zeigten, nur etwa 24 Stunden an. In weiteren Studien will der italienische Forscher nun herausfinden, wie Parkinson-Patienten über längere Zeit von Placebos profitieren können, sodass sie weniger Medikamente benötigen.
Ein Trick, um zu überleben
Solchen Konditionierungs-Effekten liegt eigentlich ein Schutzmechanismus zugrunde: «Für den Körper ist es überlebenswichtig, sich möglichst im Voraus auf Gefahren und Herausforderungen vorzubereiten», erklärt Bingel. Dies sei auch der Grund, weshalb wir manchmal über Jahre keine Speisen mehr vertragen, von denen es uns in der Vergangenheit übel geworden ist. Wer einmal verdorbene Crevetten gegessen hat, wird danach bereits beim Gedanken daran Brechreiz verspüren. Mit dieser Reaktion will sich der Körper vor weiteren Vergiftungen schützen. Symptome wie Schmerz oder Übelkeit seien dazu da, dass wir Verletzungen und Schädigungen des Körpers möglichst vermeiden, führt Bingel aus. Sobald wir im Gegenzug das Gefühl haben, dass für uns gesorgt wird und dass Heilung in Sicht ist, fahre der Körper sein Warnsystem herunter. «Bei mir schwinden Kopfschmerzen häufig bereits zehn Minuten, nachdem ich eine Tablette eingenommen habe – also noch bevor der Wirkstoff im Blut angekommen sein kann.»
In Praxis noch nicht angekommen
Die bisherigen Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass biochemische Prozesse wie etwa Immunreaktionen oder die Freisetzung von Hormonen besser auf Konditionierung ansprechen, während Schmerzempfindungen eher durch Erwartungen verändert werden können. Allerdings funktionieren Placebo-Anwendungen nicht bei allen Menschen gleich gut. Möglicherweise spiele auch der Charakter eine Rolle – zum Beispiel, ob man eher zu Optimismus oder Pessimismus neigt, sagt Ulrike Bingel, sowie genetische und andere körperliche Faktoren wie etwa die individuelle Hirnanatomie. Aber auch die Atmosphäre rund um den Patienten trage zur Wirkung bei. Wenn ein Arzt zum Beispiel eine vertrauenserweckende Umgebung schafft und selber Hoffnung auf Besserung ausstrahlt, bestehen bessere Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung.
In der Schweiz nutzen Spitäler Placebo-Effekte und Konditionierungen noch kaum. Doch einige Wissenschaftler beobachten die Forschung auf diesem Gebiet aufmerksam. «Das sind spannende Ansätze», sagt etwa Claudia Witt, Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich USZ. Der Einsatz von Placebos sei aber noch zu wenig gut untersucht, um ihn an Patienten anzuwenden, stellt die Professorin klar. Am USZ laufen zurzeit Forschungsarbeiten, die zeigen sollen, wie man anhand gezielter Informationen die Erwartungen an eine Therapie verändern kann. Claudia Witt ist sich sicher: «Auch in diesem Bereich besteht viel Potenzial.»