Es ist ja nicht so, dass Andie MacDowell (64) ihren Coiffeur nicht hätte einfliegen lassen können. Doch die Schauspielerin entschied sich bewusst, in Cannes (F) mit ergrauter Mähne über den roten Teppich zu schreiten. Nach zwei Jahrzehnten Versteckspiel wagte sie den öffentlichen Schritt zur Natürlichkeit.
Seit den 50er-Jahren sitzen Frauen stundenlang beim Coiffeur, um ihr wahres Alter zu übertönen. Wer einmal damit begonnen hat, muss regelmässig nachfärben, damit die Täuschung nicht ans Licht kommt. Chemikalien auf der Kopfhaut und finanzielle Nachteile werden ignoriert. Der Druck, jung auszusehen, ist grösser.
Viele geben das Abdecken erst im hohen Alter auf, wenn der Gang in den Salon oder die Färbe-Aktion im heimischen Badezimmer mit Gefahren verbunden ist. Altern? Gut, das muss halt sein. Aber dann bitte à la «reife Brünette mit viel Erfahrung».
Nun scheint ein Umdenken stattzufinden. Und zwar nicht nur bei Mannequins. Die Branche ist sich einig: Seit zwei Jahren wächst der Anteil von Frauen, die nicht länger färben und das ergraute Haar herauswachsen lassen. «Wir beobachten einen ersten Trend zur Akzeptanz von Grau bei Frauen mit Auswirkungen auf das Colorationsgeschäft», sagt Danielle Bryner, Sprecherin des Kosmetik-Konzerns L’Oréal. Bei den Aussteigerinnen handle es sich vor allem um Frauen über 55 Jahren.
Lockdown als Auslöser
«Das Phänomen hat sich in der Corona-Krise verstärkt, als Kundinnen zunächst nicht zum Coiffeur gehen konnten, und nach und nach auf die Idee kamen, ihr graues Haar zu tragen», bestätigt Damien Ojetti, Zentralpräsident des Verbands der Schweizer Coiffeurgeschäfte. Inzwischen lautet das Credo immer öfter: Veredeln statt verstecken. «Wir stellen einen Anstieg bei Silbershampoos, Conditioners und Masken fest», lässt die Migros-Medienstelle auf Anfrage verlauten. Produkte, die weisses Haar schimmern lassen sollen, sind auch bei Coop gefragt. Die Onlineanbieter spüren selbstverständlich den Trend: Der Webshop Perfecthair.ch spricht gar von einer Verdoppelung seines Umsatzes in diesem Segment seit Anfang 2020.
Auf Instagram trenden Hashtags wie Goinggrey und Gray Hair Movement. Die Body-Positivity-Bewegung ergreift nun die Frisuren, selbst auf den Laufstegen der Pariser Fashion Week schimmerte es silbergrau.
«Sehr gefragt ist aktuell das Grey Blending, eine Technik, die graues Haar unterstreicht und hervorhebt, und den Ansatz natürlich wirken lässt», sagt Raffaella de Simoni Thomann, Kommunikationsverantwortliche der Coiffeur-Kette Hairstylist Pierre.
Aber: Weshalb ist das so? Mit den Covid-Restriktionen kam für zahllose Frauen nach jahrelanger Abhängigkeit der kalte Entzug. Friseursalons blieben geschlossen, und die Kundinnen liessen der Natur freien Lauf. Während die gräulichen Haaransätze munter herauswuchsen, begannen alteingesessene Prinzipien zu wanken.
Starfriseur Luke Hersheson sinnierte kürzlich in der britischen Vogue: «Seit dem Lockdown gibt es ein Gefühl von Freiheit auf dem Kopf.» Die äussere sich häufig im Wunsch ihrer Kundinnen nach weniger Chemie und weniger Zeitaufwand im Alltag, wie Coiffeure in aller Welt berichten.
Karriere-Killer
Ein mutiger Schritt: Wer es wagt, ergraut herumzulaufen, nimmt soziale Risiken auf sich. «Studien zeigen: Alternde Menschen mit grauen oder weissen Haaren werden eher als inkompetent, hilfsbedürftig und ungepflegt angesehen», sagt die Gerontologin Delphine Roulet Schwab.
Laut einer Umfrage der Universität Cambridge wird graues Haar gemeinhin mit sozialer Abgrenzung und dem Wunsch nach Unsichtbarkeit assoziiert: Nicht gerade ideale Voraussetzungen für Karrierepläne.
Diese Form der Altersdiskriminierung bekam kürzlich eine kanadische TV-Moderatorin zu spüren, die nach 35 Jahren ihren Job verlor, weil sie gewagt hatte, sich mit ergrauten Haaren ins Studio zu setzen. Der Vizechef des Senders soll gefragt haben: «Wer hat genehmigt, dass Lisa grau wird?» Entsprechend war bisher die Bereitschaft gross, Zeichen des Alterungsprozesses zu übertünchen – besonders bei Frauen. Laut Umfragen kaschieren bis zu 80 Prozent jenseits der 50 ihre ergrauten Mèches – bei den Männern sind es nur zehn Prozent. Stylingexpertin Tatjana Kotoric: «Bei Männern diskutiert kaum jemand darüber, ob die weissen Strähnchen überfärbt werden müssen, die gelten dann als sexy.»
Frauen werden nach wie vor stärker nach ihrem Aussehen bewertet. «Attraktiv sind Zeichen der Fruchtbarkeit», stellt Altersforscherin Roulet Schwab fest. Zwar ergrauten beide Geschlechter gleichermassen, doch könnten Männer sogar in einer späten Phase dieses Prozesses Vater werden. «Bei Frauen wird grau meliertes Haar darum unterbewusst eher mit Unfruchtbarkeit assoziiert.»
Grau als Statement
Dass graues Haar ein Politikum sein kann, bestätigt die Waadtländer Regierungsrätin Nuria Gorrite (52): «Der Jugendkult in unserer Gesellschaft drängt unzählige Frauen in eine Konsumabhängigkeit.» Gorrite trägt ihr Haar seit drei Jahren natürlich, «seit mir klar wurde, wie viel Geld, Zeit und Ressourcen das Färben benötigt. Warum sollte der Salz-und-Pfeffer-Look nur bei George Clooney attraktiv sein?»
Kürzlich liess sich die Politikerin von Ghislaine Heger (42) ablichten. Die Westschweizer Fotografin porträtiert in ihrem neusten Projekt 100 Frauen aus der Romandie, die zu ihrem weissen Haar stehen. «Die meisten erleben es als einen Akt der Freiheit, auf das Färben zu verzichten. Aber sie fühlen sich in der Gesellschaft plötzlich wie nicht mehr gesehen.»
Nach jahrzehntelangem gesellschaftlichem Versteckspiel kann die natürliche Haarfarbe tatsächlich irritieren. Eine 40-jährige Lehrerin berichtete, während Heger sie fotografierte: «Meine Schüler fragten mich verwirrt: Sie sind jung, weil Sie tätowiert sind, aber Sie haben ja auch graue Haare und sind sehr alt – wie ist das möglich?»
Vorbilder wie Andie MacDowell oder Jane Fonda, die zu ihrem pigmentlosen Haar stehen, können zwar etwas bewirken – aber auch falsche Vorstellungen erzeugen, sagt Gerontologin Delphine Roulet Schwab: «Nicht jede Frau sieht aus wie ein Topmodel und hat perfekt kühl schimmernde Silbersträhnchen. Weisses und graues Haar hat oft einen Gelbstich und kräuselt sich.»
Weil das so ist, produziert und verkauft die Kosmetikbranche zunehmend Silbershampoos und transparente Glossings. Bei der kompletten Natürlichkeit sind wir offenbar noch nicht angekommen.