Redaktorin Silvia Tschui lebt mit drei Ukrainerinnen und ihrem Hund
Wir finden keine Wohnung für sie – was mache ich jetzt nur?

Seit Wochen leben drei ukrainische Flüchtlinge bei unserer Redaktorin. Schöne Momente und Verzweiflung wechseln sich ab. Doch immer mehr nimmt die Verzweiflung überhand – schuld sind die Behörden.
Publiziert: 30.04.2022 um 14:58 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2022 um 10:29 Uhr
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Das Riesenkalb ist mittlerweile temporär in einem Tierheim untergebracht.
Foto: Anja Wurm
Silvia Tschui

Ehrlich gesagt weiss ich gar nicht, wie ich diesen Text anfangen soll. Denn ich bin, wohl zum ersten Mal in meinem ganzen Leben, komplett ratlos. Dies, nachdem ich nach wochenlangem Herumtelefonieren zwischen diversen Behördenstellen endlich eine Sozialarbeiterin der Asylorganisation Zürich (AOZ) an den Draht bekommen habe. Eine, die nicht eine Hotline ist oder einen weiterreicht, sondern die tatsächlich die Fälle der ukrainischen Flüchtlinge bearbeitet. Sie sagt mir etwas völlig anderes, als ich bis anhin immer wieder von diversen offiziellen Stellen – auch mehrmals von der Asylorganisation Zürich – erfahren habe.

Die AOZ-Sozialarbeiterin sagt, dass sich gar keine offizielle Stelle um eine permanente Unterkunft für Oksana, Mascha und Nastja kümmert: «Was glauben Sie eigentlich, hier in der Stadt Zürich gibt es einen Leerwohnungsstand von 0,2 Prozent. Glauben Sie ernsthaft, wir suchen da was?» Dies, nachdem mir von Anbeginn an und bis letzten Montag stets versichert wurde, es dauere «zwei bis drei Wochen nach Erhalt des Status S», bis Oksana, Mascha und Nastja ein Zuhause erhielten, in dem sie längerfristig bleiben können. «Und der Hund?», habe ich jeweils gefragt? «Der kann natürlich mit», hat mir eine AOZ-Mitarbeiterin noch ein paar Tage zuvor in der Kaserne versichert.

Von all dem ist nun keine Rede mehr – und mir sinkt das Herz in den Magen. Und wenn Oksana in eine andere Zürcher Gemeinde ziehen würde, ist von Gemeinde zu Gemeinde unklar, wie viel und ob die betreffende Gemeinde überhaupt an eine Unterkunft beitragen würde. Bei allem Verständnis für Behörden, die unter dem Ansturm von Menschen fast zusammenbrechen: Aus der Froschperspektive fühle ich mich, zu Deutsch, verarscht. Ich habe mich auf offizielle Informationen verlassen, die da mehrfach lauteten: Schutzstatus S dauert zwei bis drei Tage, Unterkunft danach zwei bis drei Wochen. Was mache ich jetzt nur? Ich weiss es einfach nicht.

Die Irrungen und Wirrungen des Asylsystems

Ich dachte immer, in der Schweiz würden die Dinge funktionieren. Angesichts einer grösseren Krise, das hat bereits die Corona-Pandemie gezeigt, stossen aber unser Kantönligeist und der Föderalismus an ihre Grenzen. Und ich frage mich in Zeiten der Digitalisierung, der Algorithmen und künstlichen Intelligenz schon, wie rückständig man eigentlich sein kann. Ein AOZ-Mitarbeiter sagt mir auf Nachfrage explizit, es sei keinesfalls möglich, dass die Namen der Familie nur schon auf die Liste aufgenommen würden, die mit den Adressen von Campax abgeglichen werden.

Campax sammelt Adressen von Privaten, welche eine längerfristige Unterkunft für Ukraine-Flüchtlinge angeboten haben, für die tatsächliche Zuweisung sind allerdings die Bundesasylzentren zuständig. Die Adresslisten für Privatunterkünfte stellt Campax wiederum den Asylbehörden zur Verfügung, Die Zuteilung erfolgt durch die Asylbehörde.

Der einzige Weg, um überhaupt auf eine Liste zu kommen, die einem eine eventuelle Platzierung via Asylbehörde vielleicht (!) ermöglicht, sei gemäss einem AOZ-Mitarbeiter, zuerst in einer Massenunterkunft zu leben. Die Menschen müssen gemäss ihm also zwingend physisch in einer Massenunterkunft anwesend sein, damit ihre Namen erfasst werden. Ist das nicht einfach unglaublich? Und was ich schon zweimal geschrieben habe, gilt noch immer: Massenunterkunft kommt nicht in Frage.

Das AOZ sagt dazu auf erneute Nachfrage, dass sie bei einer Privatunterbringung grundsätzlich von einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten ausgehen. Sollte eine spezifische Privatunterbringung, aus was für Gründen auch immer, schon vorher nicht mehr möglich sein, komme folgender Prozess zum Zuge: Ist die Person vom Kanton noch nicht definitiv einer Gemeinde zugewiesen, werden die Geflüchteten zuerst in einer Kollektivunterkunft untergebracht. Nach der definitiven Zuweisung werden sie in die entsprechende Gemeinde weitergeleitet. Ist die Person schon der Gemeinde Zürich zugewiesen, wird sie möglichst in einem städtischen Durchgangszentrum wie dem Personalhaus Triemli untergebracht, bevor sie dann längerfristig in AOZ-Liegenschaften eine Unterkunft findet. AOZ-Sprecher Martin Roth sagt: «Ein organisierter Wechsel von einer privaten Unterkunft in die nächste private Unterkunft ist von der AOZ nicht möglich. Wie der Ablauf sein wird, wenn Geflüchtete mehr als drei Monate in einer privaten Unterkunft gelebt haben und dann eine neue Lösung gesucht werden muss, ist aktuell noch offen und Gegenstand der Planung.»

Wenigstens die Probleme Riesenkalb und «Chotz» sind gelöst

Die drei sind bei mir und bleiben wohl vorerst bei mir. Langfristig kann das aber keine Lösung sein: Unser kleines Reihenhaus hat zwar drei kleine Schlafzimmer. Eins ist aber unter dem Dach. Im Sommer wird es dort über 36 Grad heiss – in dem Zimmer kann man dann über Wochen nicht schlafen.

Immerhin ist das Problem Eyvan und Samba für den Moment gelöst: Eyvan konnte auf Oksanas Initiative hin gratis ins Tierheim, wo er kastriert wird. Die Tierschutzorganisation Zürich hat dies mit dem Veterinäramt und der Stiftung Tierrettungsdienst für ukrainische Flüchtlinge angeboten – danke! Bei aller Liebe zum freundlichen Riesenkalb: Der Alltag ist ohne ihn einfacher – keine lautstarken Konzerte wegen der «Chotz», und man muss auch nicht ständig aufpassen wie ein Häftlimacher, wenn man die Türe zum Gang aufmacht, damit der bei aller Grösse äusserst schnelle und agile Jagdhund nicht sofort die Treppe hochschiesst, um das Büsi in der Luft zu zerfetzen. Trotz dieser Erleichterung: Auf ewig kann Eyvan nicht im Tierheim bleiben. Und was dann? Ich weiss es nicht. Was für zwei, drei Wochen, wie ich anfangs meinte, zwar etwas mühsam, aber machbar ist, ist es langfristig eben doch nicht. Ich frage Oksana, ob ich meinen Freundeskreis bemühen soll, um Eyvan irgendwo für ein paar Monate unterzubringen. Oksana kann nicht antworten. Sie hat Tränen in den Augen und offensichtlich einen Kloss im Hals. Schliesslich nickt sie stumm. Und ich fühle mich wie ein Schuft. Ich simse ein paar Bekannte an. Bis jetzt ist es noch in der Schwebe.

Mascha sollte ans Gymnasium – aber wie?

Mascha sitzt derweil vor ein paar Tagen am Stubentisch, wo sie ukrainischem Online-Unterricht folgt. Als ich «Vektor A, Vektor B …» höre, werde ich hellhörig: Klingt nach Vektorgeometrie, und das hatte ich in einem früheren Leben im Gymi. Ich frage bei einer befreundeten Lehrerin nach, ob Vektorgeometrie zum Stoff in der Sek gehört. Tut es nicht. Gehört Mascha ans Gymi? Ab dem darauffolgenden Montag, kurz vor den Frühlingsferien, kann sie in eine sogenannte Auffangklasse der Volksschule. Eine gute Sache – allerdings beginnt man dort bei den allertiefsten Basics. Und in einem Jahr schon, sollte der Krieg noch lange dauern und Mascha so lange hier bleiben, würde sie ausgeschult. Nach der Auffangklasse hätte sie rudimentäres Deutsch gelernt und sonst wohl nicht viel. Und so ginge es dann an die Lehrstellensuche.

Keine wirklich erfreulichen Aussichten. Es wäre für Mascha viel besser, sie könnte ein Jahr repetieren und dann ans Gymi. Also rufe ich bei der Schulpflege an, die mich an die nächstgelegene Kantonsschule weiterverweist, die mich an die Schule für Erwachsenenbildung weiterverweist. Die bietet noch in derselben Woche eine sogenannte Lernstandabklärung an, wofür man eine Bestätigung des Schulleiters braucht. Der nicht erreichbar ist, worauf man … ich erspars Ihnen. Die Telefon-Saga geht weiter – und irgendwann muss ich eigentlich auch meinen Job machen. Meistens mache ich den für den Moment nachts. Nachrichten von Lesern bleiben teilweise liegen – es tut mir leid.

Ehrlich gesagt: Der «mental load», den man als berufstätige Mutter leistet, ist eigentlich schon viel. Also all das, woran man im alltäglichen Wahnsinn neben einem Job auch noch denken muss: Geburtstagsgeschenke für Gschpänli vom Sohn kaufen, den Logopädie-Termin nicht verpassen, das Fussball-Zeugs zum richtigen Zeitpunkt frisch gewaschen gepackt haben, an den Zmittag für die Schulreise denken etc. Jetzt bin ich zusätzlich dafür verantwortlich, das Leben von drei weiteren Menschen zu organisieren. Kreisbüro-Besuche, nachfragen, wie es dem Hund nach der Operation geht, Schule organisieren … Und es fordert seinen Tribut: Ich verschwitze für mich selbst wichtige Termine, schaffe es nicht an die Redaktionssitzung, weil mein E-Bike nicht aufgeladen ist, kann mich plötzlich nicht mehr an meine Passwörter erinnern oder daran, ob ich den Hund schon gefüttert habe oder nicht. Anscheinend ist solche Vergesslichkeit eine normale Stressreaktion, sagt das Internet. Liebe Leser, falls Sie jetzt versucht sind, mir zu schreiben und mir zu sagen, ich solle aufhören «zu jammern»: Sparen Sie es sich. Ich versuche hier einfach zu beschreiben, wie es ist.

Ob Mascha sich für eine Empfehlung fürs Gymi und damit für einen Intensiv-Vorbereitungskurs qualifiziert, weiss ich bei Redaktionsschluss noch nicht. Aber immerhin konnte sie via diese Lernstanderhebung den allerletzten Platz für einen Intensiv-Deutschkurs in den Frühlingsferien ergattern. Nastja ist inzwischen in einer Regelschule in der fünften Klasse aufgenommen worden.

Oksana braucht Arbeit

Sie, liebe Leser, haben in vielen Kommentaren und direkten Nachrichten gefragt, wie es weitergeht. Ich weiss es nicht. Am ehesten wohl, indem man sich ganz bewusst wird, dass man nicht länger auf Hilfe vom Staat wartet. Und, falls ich nochmals Ihre überwältigend grossherzige Hilfe bemühen darf: Zwei Leser haben sich mit Stellenangeboten für Oksana gemeldet, aus denen aber bis jetzt irgendwie nichts wurde. Ich sage es hier ganz unverhohlen: Oksana braucht eine Stelle. Sie sagt, sie war Juristin und Ökonomin in der Ukraine. Sie kann zwar nicht viel Englisch und bis jetzt kaum Deutsch, holt aber Deutsch so schnell wie möglich nach. Sie kann komplexe Buchhaltung, sagt aber, sie nehme jegliche Arbeit an (ausser Anrüchiges) – und sie muss zwei Mädchen ernähren. Ihre Muttersprache ist Russisch, und sie kann fliessend Ukrainisch und etwas Polnisch. Eine günstige Wohnung braucht sie auch. Im Kanton Zürich, weil sie sich auf Weisung des Staatssekretariats für Migration nirgendwo sonst niederlassen darf. Besser in der Stadt, damit die Verhältnisse mit dem AOZ klar sind. Danke.

Und ich atme jetzt mal tief durch.


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