Antonina (42) und Maxim (4) leben jetzt in Riehen BS
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Bei Schweizer Familien:Antonina (42) und Maxim (4) leben jetzt in Riehen BS

Schonungsloser Bericht von Redaktorin Silvia Tschui
So ist es, mit drei Frauen aus der Ukraine zu leben

Oksana, Marija und Anastasija wohnen seit über einer Woche bei unserer Redaktorin Silvia Tschui und ihrem Sohn. Ein schonungsloser Bericht darüber, wie es ist, mit drei Menschen zu leben, die fast alles verloren haben – und über die Überforderung unserer Behörden.
Publiziert: 02.04.2022 um 14:05 Uhr
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Aktualisiert: 03.04.2022 um 10:35 Uhr
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In der ersten Nacht macht der gestresste Hund rein – und zwar nicht zu knapp.
Foto: Thomas Meier
Silvia Tschui

Der hünenhafte Hund hat nicht nur zweimal reingekotzt, er hat auch einen riesigen Haufen neben dem Teppich platziert und an drei Stellen in unserem Esszimmer markiert. Geschlafen habe ich in dieser ersten Nacht, in der drei ukrainische Frauen, eine Mutter und ihre zwei Töchter, bei mir sind, wenig bis kaum. Ihr Riesenhund hat die ganze Nacht durchgeheult und -gejault. Ihn mit nach oben in die Schlafzimmer nehmen, wo die neu angekommenen Ukrainerinnen schlafen, geht nicht: Das Kalb von einem Tier würde unsere Katze in der Luft zerfleischen, sollte es ihr auf dem Flur begegnen. Und selber aufstehen, nach unten gehen und den Hund beruhigen geht auch nicht: Ich, seit meiner Kindheit hundeerprobt, habe Angst vor dem überdimensionierten Rüden, der mit meiner eigenen Hündin im Wohnzimmer eingesperrt ist. Und so steht die Frau, die im Zimmer neben mir zu schlafen versucht, alle paar Momente auf und geht die knarrende Treppe hinunter, um das Viech zu beruhigen. Bis ich höre, dass sie sich mehrmals in die Toilette erbricht. Ab da steht sie nicht mehr auf und lässt den Hund heulen. Und ich kann unmöglich schlafen und ärgere mich.

Morgens um sieben fasse ich mir ein Herz und öffne vorsichtig die Tür zum Esszimmer, wo der Hund in der Nacht randaliert hat. Das Tier hört sofort auf zu bellen und zu jaulen und begrüsst mich schwanzwedelnd. Entwarnung! Als Erstes wische ich dann den riesigen Haufen Hundekacke vom Parkett, putze die markierten Stellen mit Essigwasser und pule Hundekotze-Bröckchen aus dem Teppich. Der ist zum Glück aus Wolle und schmutzabweisend. Ein hohläugiges Mädchen steht bald in der Küche. «Oh, Eyvan!», sagt es, meint damit ihren Hund, und fügt an: «So, so sorry!» Bald steht auch ihre kleine Schwester da.

Sie heissen Mascha und Nastja, was die Koseformen der Namen Marija – mit Betonung auf dem ersten A und Anastasija – mit Betonung auf iii-ja – sind, und sie sind fünfzehn und zehn Jahre alt. Sie sprechen sehr spärliche Brocken Englisch und gar kein Deutsch. Die Mutter der beiden schläft noch. Ich mache den stummen Mädchen Frühstück und ärgere mich etwas darüber, dass deren Mutter nicht aufsteht. Nicht für ihre Mädchen, nicht um die Kacke und Kotze ihres Hundes wegzuputzen. Als sie um halb elf Uhr morgens immer noch kein Lebenszeichen von sich gibt, bin ich regelrecht sauer. «Wann steht deine Mutter normalerweise auf?», frage ich Mascha via Google Translate.

«Poisoned», «vergiftet», kommt die Antwort. In meinem Kopf rast sofort ein Film los, panikartig: Was? Wie? Auf der Flucht vergiftet? Oder zu Hause schon? Von russischen Biowaffen? Was mache ich jetzt bloss? Was mache ich mit den Mädchen, wenn die Mutter ins Spital muss? Auf mein hektisches Nachfragen gibts Entwarnung. Es handelt sich um das erste von vielen Missverständnissen via Google Translate. Die Mutter hat wohl das, was man im Englischen «food poisoning» nennt. Oksana scheint gestern etwas Schlechtes gegessen zu haben. Oder – und jetzt schäme ich mich sehr für meine Verärgerung in der Nacht und am Morgen – ihr vegetatives Nervensystem sagt nach satten zwanzig Tagen Irrfahrt quer durch Europa mit zwei Kindern, einem riesigen Tier und ihren ganzen Habseligkeiten verständlicherweise einfach: Njet.

Nach der zwanzigtägigen Reise folgt der Zusammenbruch

Auf ihre Stadt fallen Bomben. Am 2. März fahren sie deshalb aus Schytomyr los, am 22. März kommen sie bei uns an. Gefunden haben sie mich über die privat organisierte Webseite «ukrainetakeshelter.com», wo ich meine E-Mail-Adresse angegeben hatte: Ich hätte übergangsweise einen Platz für ukrainische Flüchtlinge anzubieten. Seither erreichen mich jeden Tag rund drei bis fünf Anfragen. Eine erste Familie, ebenfalls eine Mutter mit zwei Töchtern, habe ich bereits für eine Nacht auf der Durchreise beherbergt. Die Nächsten, also Oksana und ihre Töchter, wollen in der Schweiz bleiben und fragen, ob sie für zwei Wochen bei mir bleiben dürfen, bis die Formalitäten mit den Ämtern erledigt sind und sie für eine langfristige Lösung platziert werden können. Dass meine Annahme, zwei Wochen würden hierfür reichen, reichlich naiv ist, wird sich noch zeigen.

Und dann stehen sie also nach zwanzig Tagen Reise an unserer Tramhaltestelle. Oksana und ihre Töchter, das Riesenkalb Eyvan und diverse Reisetaschen und Plastiksäcke – und sehen zu Tode erschöpft aus. Ich koche ihnen Linseneintopf und Würste, die guten, handgemachten meiner Metzgersfreundin Tanya Giovanoli, die auch an Caminada liefert – ich will mich nicht lumpen lassen. Und dann lasse ich die Neuankömmlinge zurück und gehe ans Geburtstagsfest einer Freundin, bevor ich spätnachts zu einem heulenden und jaulenden Höllenhund zurückkehre. Die Mädchen sagen übrigens am Morgen, sie hätten geschlafen und gar nichts gehört – ein Indiz dafür, wie komplett übermüdet sie gewesen sein müssen.

Ich klopfe an die Tür. Oksanas Gesicht ist rot und nass vom Weinen, sie ist kurzatmig und komplett nass geschwitzt, sie sagt: «Doctor.» Ich umarme sie und hole dann den Fiebermesser: 38,1. Krank, aber nicht lebensgefährlich. Husten tut sie nicht. Uff. Die Ukraine ist Tuberkulose-Hochrisikogebiet. Das hätte grade noch gefehlt. Ein Covid-Schnelltest ist zum Glück auch negativ. «So, so sorry», murmelt auch Oksana, und: «So weak.» Sie sei schwach, sagt sie, könne nicht aufstehen, brauche einen Arzt. «Aspirin oder Paracetamol», sagt der Telefonarzt, und ansonsten müssten wir in den Notfall.

Oksana bleibt zwei Tage liegen. Ich kümmere mich um die Mädchen, mit denen ich nicht sprechen kann, den Hund, meinen eigenen Sohn, meinen eigenen Hund, koche, halte Eyvan, der sich als treuherziges, liebesbedürftiges Riesenbaby entpuppt, das wir bald lieben, davon ab, die Katze zu zerfleischen, organisiere die Schlafplätze um, sodass Mascha bei ihrem Hund in der Stube schläft, damit er ruhig ist.

Die erste Kommunikation nach der Krankheit: «Ich will bitte arbeiten. Egal, was!»

Nach zwei Tagen steht Oksana auf und fragt als Allererstes via Google Translate: «Silvia, can you help me find work?» – «Kannst du mir helfen, Arbeit zu besorgen?» – «Anything!», sie tue alles! In der Folge versuche ich zum ersten Mal, nützliche Angaben von unseren Behörden zu erhalten – eine Odyssee, bei der man von Pontius zu Pilatus geschickt wird. Alle scheinen überfordert, teilweise erhalte ich Fehlinformationen.

Ich lasse mir von Oksana ihre Papiere geben, darunter eine Erstregistrierung des Bundesasylzentrums, rufe dort an und schildere genau, welche Papiere sie bereits haben. Um den Flüchtlingsstatus S zu erhalten, brauche sie eine weitere Registrierung, wird mir am Telefon gesagt. Mein Partner pilgert mit der ganzen Familie also erneut zum Bundesasylzentrum, wo nach stundenlangem Warten eröffnet wird, sie habe die benötigte Registrierung bereits vorgenommen. Oksana muss jetzt auf die Bearbeitung und die Zuteilung des Status S warten. Es wird aber auch gesagt, sie können sich auf der «Gemeinde» bereits melden, um eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Oksana sagt deshalb ständig, sie müsse zur «Gemeinde» obwohl sie den Begriff nicht versteht.

Weitere Anrufe meinerseits klären auf: Damit ist seitens des Bundesasylzentrums das Einwohnermeldeamt im zuständigen Stadtkreis gemeint. Nur will man dort, im Albisriederhaus in Zürich-Altstetten, von einer vorläufigen Anmeldung nichts wissen. Ohne Status S gibt es keine Anmeldung, auch keine provisorische, also auch keine Arbeit, keine Sozialhilfe, kein Geld, kein gar nichts. Um jetzt zu schildern, wie unglaublich mühsam es gewesen ist, überhaupt zu wissen, dass man einfach warten, warten, warten muss, wie viele Telefonate ich geführt, welche absurden Fehlinformationen ich erhalten habe, wie viele E-Mails ich an diverse Stellen geschrieben habe, die tagelang nicht beantwortet werden, bräuchte ich übrigens diesen ganzen Artikel.

Lassen Sie mich einfach sagen: Zwischen Bundesasylzentrum, Ukraine-Helpline, Staatssekretariat für Migration, Einwohnerkontrolle, Sozialamt, die einen alle ständig wie eine heisse Kartoffel unnötig im Kreis weiterverweisen, sind Franz Kafkas beklemmende Romane ein Kinderspaziergang. Und während es zuerst hiess, die Bearbeitung des «Schutzstatus S» dauere «ein paar Tage», sagt das SEM eine Woche später bereits, es könne «ein paar Wochen» dauern.

Die Lage wird schlimmer – aber niemand ist zuständig

Oksana und ihre Mädchen, obwohl sie mir bald ans Herz wachsen, können hier nicht monatelang bleiben. Unser Haus ist ganz einfach zu klein, und nach zwei Grosseinkäufen für drei zusätzliche Menschen frage ich mich, ob es eigentlich keine Lebensmittelhilfe vom Staat gibt. Mein Partner und mein Mami springen ebenfalls ein, kaufen Schuhe für die Mädchen, Socken, Hygieneartikel. Denn Oksana geht das Geld aus. Dreihundert Franken hatte sie anfangs noch, mittlerweile funktioniert ihr Bankkonto nicht mehr. Ich wende mich ein letztes Mal an die Ukraine-Hotline, um herauszufinden, ob es wenigstens Essensgutscheine oder eine direkte Nahrungsmittelhilfe gibt – die mich erneut ans Bundesasylzentrum verweist, wo ich schon gefühlte hundert Mal angerufen habe.

Ansonsten, sagt der Hotline-Mitarbeiter, solle ich «halt die Leute mit Sack und Pack ins Bundesasylzentrum abschieben», wo sie in die Massenunterkunft in der Saalsporthalle gebracht würden, «wenn ich sie nicht mehr wolle». Ganz abgesehen davon, dass ich kein zehnjähriges Mädchen in eine Massenunterkunft mit lauter kriegstraumatisierten Menschen schicke, weiss er auch auf die Frage, wer dort für Nahrungsmittel sorgen werde, keine Antwort. Ich hätte die Leute ja aufgenommen, dann seien sie jetzt halt auch in meiner Verantwortung.

Nun, ich übernehme gern Verantwortung, ich helfe gerne. Ich erspare dem Staat nur schon mit dem Dach über dem Kopf, das ich unbürokratisch für drei Menschen anbiete, einige Hundert Franken pro Tag. Dass ich aber deshalb auch automatisch wochenlang dafür verantwortlich bin, dass Oksana, Mascha und Nastja keinen Hunger leiden müssen, das finde ich von unserem Staat erbärmlich.

Endloser Leerlauf Bürokratie

Nun, wir warten weiter auf den Schutzstatus S. Essen wir halt Spaghetti die nächsten Wochen. Ausserdem haben Freunde und manchmal auch entferntere Bekannte, die man auf dem Hundespaziergang trifft, zugesagt, auch mal einen Einkauf zu übernehmen. Trotzdem: Menschen so zur Untätigkeit zu verdammen, scheint mir falsch, und die gesichtslose bürokratische Wand, an die man immer und immer wieder läuft, macht einen stinkwütend, resigniert und lässt einen sich hilflos und machtlos fühlen – insbesondere, wenn man sich bewusst wird, dass ich immerhin der Sprache mächtig bin und als Journalistin weiss, wie man recherchiert und eigentlich ohne grossen Aufwand herausfinden kann, an welche Stellen man sich wenden muss. Welche Chance haben da Menschen, die kaum Englisch, geschweige denn Deutsch sprechen? Und wenn man sich überlegt, dass Ukrainer ein beschleunigtes Verfahren erhalten und andere Flüchtlinge aber monate- und jahrelang gezwungen werden, in solch einem Zwischenzustand verharren zu müssen, graut es einen. Man bekommt plötzlich Einblick in eine unmenschliche Bürokratie-Parallelwelt, die einem ansonsten verschlossen bleibt.

Mittlerweile, nach eineinhalb Wochen, in der wir unser Haus mit drei Schlafzimmern mit Oksana, Mascha und Nastja teilen, hat sich eine brüchige neue Normalität und Arbeitsteilung etabliert. Ich backe Wähe, Ofenhuhn und brate Cervelats für alle, Oksana zeigt mir dafür, wie echter ukrainischer Borschtsch – sehr lecker! – geht. Ich bringe ihr und den Mädchen ein paar Brocken Deutsch bei, sie versuchen dasselbe ziemlich erfolglos auf Ukrainisch. Was an mir und nicht an ihnen liegt. Unsere Laute sorgen regelmässig für Heiterkeit. E und I wie auch das O und unser dunkles Zürcher A sind zum Beispiel nicht leicht zu unterscheiden. So wird aus «Er» «Ihr», und aus unserem Büsi, der «Chatz», regelmässig «Chotz». Und mein zehnjähriger Sohn bekommt einen Lachkrampf, weil «Sechs» auf Ukrainisch wie «Schissi» ausgesprochen wird. Sie machen das mit dem Deutsch übrigens unglaublich gut, üben stundenlang die Laute unseres Alphabets und Wörter und Verben, die ich ihnen gebe, und können bereits einfache Sätze mit «haben» und «sein» bilden.

Ich nähe Röcke enger, die Oksana für ihre Töchter über einen Ukraine-Hilfe-Whatsapp-Kanal erhalten hat, sie geht dafür mit unserer jungen Hündin Samba raus. Die hat übrigens die Zeit ihres Lebens und ist schwerst in den ukrainischen Bad Boy Eyvan verliebt. Der ja eigentlich gar kein Bad Boy ist, sondern einfach ein liebesbedürftiger Tscholi. Trotzdem: Sollte sie jetzt zum ersten Mal läufig werden, weiss ich wirklich nicht, was ich tun soll.

Wir stellen uns darauf ein, Oksana und ihre Kinder länger zu begleiten als gedacht. Auch wenn kurz vor Reaktionschluss der ersehnte Status S tatsächlich ins Haus flattert. Oksana beginnt vor Freude und Erleichterung zu weinen und ich öffne eine Flasche Champagner. Trotzdem: Der Behördenmarathon fängt hiermit wohl erst an. Wenn sie schliesslich eine permanente Unterkunft haben, werden wir zum einen bestimmt erleichtert sein, das Haus wieder für uns zu haben. Zum andern werden wir sie aber auch vermissen. Wir alle, ausser natürlich unsere arme «Chotz».


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