Auf einen Blick
Ruedi und Stephanie Baumann waren das erste Ehepaar, das gemeinsam im Nationalrat sass. Später zog es die 73-jährige Sozialdemokratin und den 77-jährigen Grünen nach Frankreich, wo sie ein weitläufiges Anwesen erwarben. Jetzt erbt Sohn Simon (45) das Vermächtnis seiner Eltern – und zeigt im Dokfilm «Wir Erben» (ab 30. Januar im Kino), wie eine Familie den Nachlass regeln kann, ohne dass es zu Zerwürfnissen kommt.
So entspannt sind Schweizerinnen und Schweizer normalerweise nicht. Gemäss der Schweizer Erbschaftsstudie 2023 fürchten sich neun von zehn Erben vor Streit. Einen typischen beschreibt die deutsche Psychotherapeutin Christiane Wempe (66) in ihrem Fachbuch «Wenn Erben zum Streitfall wird»: In der Familie M. stirbt der Vater. Die Mutter erbt das Haus. Die beiden Kinder verzichten, da die Mutter im Haus bleiben will und ihnen mit ihrer kleinen Rente den Anteil der Kinder vom Haus nicht auszahlen kann.
Jahre später wird die Mutter pflegebedürftig. Die Tochter zieht ins Elternhaus zurück und kümmert sich um sie. Der Sohn ist beruflich stark eingebunden und schaut nur selten zur Mutter. Als dann die Mutter verstirbt, stellt sich heraus, dass sie das Haus bereits der Tochter überschrieben hat, als Ausgleich für ihre Hilfe und weil diese als Alleinerziehende wenig verdient.
Der Sohn, der erst zu diesem Zeitpunkt davon erfährt, ist höchst erbost und droht seiner Schwester mit rechtlichen Schritten. Das für ihn zum Ausgleich vorgesehene Geld ist zum Teil für die Pflege aufgebraucht worden.
Geld als Zeichen der Wertschätzung und Ablehnung
Das Fallbeispiel zeigt die psychologische Dimension des Erbens. Geld habe oft eine symbolische Bedeutung und kann Wertschätzung oder Ablehnung zum Ausdruck bringen, sagt Psychotherapeutin Wempe im Gespräch mit Blick.
Psychotherapeutin Christiane Wempe (66) ist Autorin des 2023 veröffentlichten Sachbuches «Wenn Erben zum Streitfall wird – Eskalationen in der Familie vermeiden». Einer ihrer Schwerpunkte ist Familienpsychologie inklusive Erbschaft und Geschwisterbeziehungen. Wempe arbeitet in ihrer eigenen Praxis in Ludwigshafen, Rheinland-Pfalz, Deutschland.
Psychotherapeutin Christiane Wempe (66) ist Autorin des 2023 veröffentlichten Sachbuches «Wenn Erben zum Streitfall wird – Eskalationen in der Familie vermeiden». Einer ihrer Schwerpunkte ist Familienpsychologie inklusive Erbschaft und Geschwisterbeziehungen. Wempe arbeitet in ihrer eigenen Praxis in Ludwigshafen, Rheinland-Pfalz, Deutschland.
Hoch emotional sei bereits der Moment, in dem eine Person erstmals darüber nachdenkt, was sie nach ihrem Tod hinterlassen möchte. Meist geschehe das im Moment, wenn Eltern das Alter erreicht haben, in dem gesundheitliche Probleme und Verluste im Familien- und Freundeskreis zunehmen. «Die Angst vor der eigenen Endlichkeit löst das Bestreben aus, etwas von sich auf dieser Welt zu hinterlassen und sich auf irgendeine Weise unsterblich zu machen.»
Dieses Phänomen nennt man in der Psychologie Generativität. Wempe unterscheidet in ihrem Fachbuch zwischen vier Prinzipien, die spezifische Probleme mit sich bringen:
1. Gleichbehandlung: Entspricht der gültigen Rechtsprechung, in der leibliche Kinder gleichgestellt werden – unabhängig von ihren Verdiensten um das Wohlergehen der Eltern. Wempe: «Kinder, egal wie alt, reagieren empfindlich auf Abweichungen von dieser Norm und vergleichen sich ständig.»
2. Gegenleistung: Das Erbe wird danach aufgeteilt, wer – unabhängig vom Verwandtschaftsgrad – bestimmte Gegenleistungen für den Erblasser erbracht hat. Wenn sich ein Kind so seinen Vorteil verdient hat, stösst dies gemäss Wempe am ehesten auf Akzeptanz.
3. Bedürftigkeit: Der letzte Wille richtet sich an der Bedürftigkeit der Kinder aus. In der Regel werde das von anderen Familienmitgliedern akzeptiert, wenn die Not durch einen Unfall oder eine chronische Erkrankung bedingt ist, sagt Wempe. Anders sehe es aus, wenn die Bedürftigkeit selbstverschuldet sei, zum Beispiel durch übermässiges Konsumverhalten.
4. Bevorzugung: Eltern bringen mit der Verteilung der Erbgüter ihre Sympathie und Antipathie ihren einzelnen Kindern gegenüber zum Ausdruck. Wempe: «Was vielleicht vorher vertuscht wurde, tritt durch das Testament unwiderruflich ans Tageslicht und ist nun allen zugänglich.»
Im Fall von Familie M. kommen mehrere Prinzipien zum Tragen. Die Tochter wird übervorteilt, weil sie in den Augen der Mutter bedürftig ist. Sie war als Kind lange krank, wurde früh schwanger, der Vater des Kindes verliess sie. Zusätzlich möchte die Mutter sich dafür bedanken, dass die Tochter sie in schwierigen Zeiten unterstützt hat. Dem Sohn verheimlichte sie die Überschreibung, weil sie sich vor einem Konflikt fürchtete.
Eltern würden Kinder immer unterschiedlich behandeln, sagt Wempe – alleine schon aufgrund des Altersunterschieds. Als ungerecht werde das oft erst empfunden, wenn die Hintergründe nicht erklärt werden. So auch im Fall von Familie M.: Der Sohn fühlte sich vor allem deshalb verletzt, weil die Überschreibung des Hauses hinter seinem Rücken geschah.
Es liege in der Verantwortung der Eltern, aktiv das Gespräch mit ihren Kindern zu suchen, sagt Wempe. Denn gerade in solchen Situationen sei «Über Geld spricht man nicht» das denkbar schlechteste Motto.