Life: Frau Bischof, was antworten Sie, wenn Sie jemand nach Ihrem Beruf fragt?
Karoline Bischof: Dass ich Sexualtherapeutin und Gynäkologin bin. Manchmal formuliere ich es auch umgekehrt. Je nachdem sind die Leute etwas konsterniert von der «Sexualtherapeutin». Die einen gehen zur Tagesordnung über. Andere trauen sich – und stellen Fragen. Zuhören wollen aber alle. Viele können sich allerdings gar nichts unter meiner Arbeit vorstellen, die Leute haben kein Konzept von Sexualtherapie. Solange es sexuell einigermassen läuft, macht sich ja auch niemand Gedanken.
Die Leute kommen also erst zu Ihnen, wenn ein Problem auftaucht?
Ja. Bei Männern sind dies meist Erektionsprobleme oder frühzeitiger Samenerguss. Manchmal liegt das an Gewohnheiten in der Selbstbefriedigung, die sich schlecht auf Paarsex übertragen lassen, z.B. wenn der Penis mit viel Druck stimuliert wird. Die Frauen kommen, weil sie Orgasmusprobleme oder keine Lust haben. Unlust entsteht oft, weil die Sexualität schlicht nicht sehr lustvoll abläuft. Zudem gibt es Frauen, die wegen Schmerzen beim Sex zu mir kommen.
Wie sieht eine Therapiestunde aus?
Zunächst frage ich nach dem Anliegen des Paares oder der Person. Dann besprechen wir das Erleben der Sexualität bis ins Detail. So erfahre ich, was gut funktioniert und was sich ausbauen lässt. Eine Frau, die keine Lust hat, frage ich etwa, was sie macht, um besser geniessen zu können. Dazu gibt es nämlich Strategien, die man sich etwa von Katzen abschauen kann. Eine Katze schmiegt sich in die streichelnde Hand und holt sich, was sie braucht. Auch wenn jemand mies streichelt, hat sie Freude. Die Welt ist gespickt mit mittelmässigen Liebhabern. So ist es gut zu wissen, wie man wie eine Katze selbst mehr herausholen kann. Auch fühlt sich eine Berührung halb so gut an, wenn man angespannt ist. Doch die Hälfte der Leute spannt den Körper in der Erregung an. Das ist kein Genuss-, sondern ein Kampfmodus. Gemeinsam besprechen wir genau solche Dinge und schauen, was man ändern könnte.
Wie gehen Sie dazu vor?
Ich arbeite mit einem körperbasierten Ansatz, dem kanadischen Konzept Sexocorporel. Dieses nutzt die Tatsache, dass es oft einfacher ist, den Körper zu beeinflussen als den Kopf. Man setzt also beim Körper an und erreicht damit die Gedanken: Wenn ich die Muskelspannung verändere, beeinflusst dies auch meine Emotionen. Entsprechend machen wir verschiedene Atem-, Muskelspannungs- und Bewegungsübungen. Darunter auch an- und entspannen des Beckenbodens, der übrigens ein wahrer Sexmuskel ist. Berührungen, insbesondere genitale, gibt es in der Therapie nicht. Doch die Leute bekommen Übungen, die sie zu Hause machen können.
Und in der nächsten Sitzung wird dann darüber berichtet?
Ja. Mit der Zeit entwickeln Leute so ihre eigene erotische Stimme. Es geht dabei um eine Investition in den Körper, darum, sein Geschlecht «gut zu bewohnen». Das heisst, es wirklich gut zu spüren. Oft haben sich für gewisse Körperteile noch keine Synapsen im Hirn gebildet. Das gilt z.B. für Frauen, die sich nur über die Klitoris erregen, nicht über die Scheide. Dabei hat die Scheide innen ganz viele Nerven, die erst über regelmässige Massage «verdrahtet» werden mit dem Hirn. Oder ein Penis, der sich an einen «Rubbelmodus» gewöhnt hat. Auch der hat andere Nervenenden und kann abwechslungsreiche Stimulation geniessen lernen.
Klingt nach brachliegendem Potenzial.
Absolut, da wäre sexuell oft viel mehr möglich. Für Männer wie für Frauen gilt: Eine lustvolle Sexualität hat viel mit Lernen und Üben zu tun. Am besten ist es, wenn man neugierig wird auf seinen Körper und ausprobiert. Unsere Gesellschaft fördert diese Haltung leider nicht, das Lustvolle findet meist kaum Erwähnung. Aufklärung in der Schule ist vor allem Schadensbegrenzung. Und es fängt noch viel früher an. Auch heute heisst es immer noch «pfui», wenn kleine Kinder sich erforschen. Wichtig wäre es, der kindlichen Exploration mehr Raum und eine positive Wertung zu geben.
Gab es in der Therapie auch schon Situationen, die Ihnen zu intim wurden?
Nein. Ich bin da gelassen. Mich interessiert, wie der Mensch sexuell funktioniert, auch wenn er damit schräg erscheinen mag. Wenn jetzt jemand in die Therapie kommt und erzählt, «ich ficke meinen Dackel», möchte ich wissen, wie und wieso er das macht. Bei sehr erregbaren Männern gibt es übrigens bei den Körperübungen auch hier und da eine Erektion. Dann sage ich: Aha, der Reflex funktioniert, ist doch super.
Was war bisher das schrägste Erlebnis?
Bei Männern treibt die Suche nach Erregungsquellen bisweilen kuriose Blüten, z. B. wenn es um Fetische geht. Es müssen dann vielleicht rote Stiefel sein, aber in Lack oder Latex, ja kein Wildleder. Oder eben genau Wildleder und nichts anderes. Der Absatz muss auf eine ganz bestimmte Art quietschen und so weiter. Ich finde es faszinierend.
Hat sich an Ihrer Arbeit denn etwas verändert im Lauf der Zeit?
Mir scheint ein gewisser Leistungsdruck zugenommen zu haben: Alle wollen einen Penis von 23 cm und zwei Stunden lang können. Doch sind die Leute heute auch besser informiert, insbesondere Jugendliche. Diese stellen vermehrt Fragen auch zu Praktiken, die sie in Pornos gesehen haben. Das war früher kaum der Fall. Daraus zu schliessen, die heutige Jugend sei übersexualisiert, ist aber falsch. Studien zeigen, dass informierte Jugendliche sich klarer abgrenzen, später den ersten Sex haben und weniger unerwünscht schwanger werden.
Und wie schaffen es Paare nun, füreinander sexuell attraktiv zu bleiben?
Das hat damit zu tun, wie ich auf meinen Partner schaue. Wenn ich auf jung und straff stehe, habe ich in etwas Optisches investiert und nicht in sinnliche Reize, z. B. in die Tatsache, dass sich die Haut auch noch in höherem Alter gut anfühlt, dass es in der Scheide drin wahnsinnig geil oder ein Penis mitsamt dem Mann dran einfach das beste Sextoy ist. Wenn man das lernt, verändert sich der Blick auf den Partner, und der Sex bleibt interessant.