Darum gehts
Etwa 2 Prozent der Bevölkerung leidet am Messie-Syndrom. Danièle Stucki ist Psychologin und Präsidentin von «Lessmess», dem Schweizer Verein für Messies und ihre Angehörigen. Als ehemalige Beiständin hat sie viele Einblicke in deren Probleme erhalten.
Danièle Stucki, wie definiert man das Messie-Syndrom?
Der Fachausdruck dafür lautet «pathologisches Horten». In einem internationalen Diagnosemanual gilt es als eigenständige Störung, als Zwangserkrankung. Als Kriterium muss unter anderem der Wohnraum übermässig zugestellt sein. Bei echten Messies sind nicht selten der Eingang, der Gang, das Badezimmer, die Küche, das Wohnzimmer, manchmal das ganze Schlafzimmer und das Bett, vollgepackt. Wobei ganz wichtig zu erwähnen ist, dass Messies keine Gammler sind. Wir sprechen hier nicht von Verwahrlosung, schimmelndem Essen usw., sondern von einer Sammelwut, die ausser Kontrolle geraten ist.
Bruno Stefanini war bereits als Kind ein Sammler. Damals hat er seine Schätze allerdings gehegt und gepflegt. Irgendwann hat er sie nur noch gehortet. Was ist da zwischendurch passiert?
Es ist häufig so, dass die Sammelsucht mit den Jahren immer stärker wird und einem irgendwann über den Kopf wächst. Es braucht viel Zeit, um alles zu ordnen.
Er träumte von einem Museum für seine Schätze, das nie zustande kam.
Der Gedanke, «alles irgendwann irgendwie irgendwo zu ordnen», ist bei vielen Messies präsent. Dazu kommt bei vielen – so wie bei Stefanini – eine grosse Sparwut.
Könnte das ein Grund sein, dass ältere Menschen fast dreimal so häufig betroffen sind wie jüngere?
Auf jeden Fall. Der Gedanke, nicht verschwenderisch sein zu wollen, ist bei dieser Generation viel präsenter. Wenn man Messies fragt, warum sie etwas nicht fortgeben können, sagen sie oft, vielleicht könnten sie es ja irgendwann brauchen.
Wo liegt der Unterschied zwischen Geiz und pathologischem Horten?
Messies binden sich emotional stark an Gegenstände und fühlen sich für diese verantwortlich. Den meisten Messies ist bewusst, dass sie gegen soziale Normen verstossen. Deshalb schämen sie sich für ihre grosse Unordnung und lassen niemanden in ihre Wohnung.
Wenn der Messie weiss, dass seine Unordnung nicht «normal» ist – warum räumt er nicht einfach auf?
Je mehr sich gestapelt hat, desto grösser ist der Aufwand, und je mehr man vor diesem riesigen Aufwand steht, desto schwerer fällt es, mit Aufräumen zu beginnen. Messies fühlen sich schlecht, wenn sie etwas in den Abfallsack tun müssen.
Warum ist das für sie so schwierig?
Weil ganz viele Stücke mit Erinnerungen oder Ideen verbunden sind.
Ich habe auch eine Box mit Erinnerungsstücken, die ich nicht weggebe – aber nicht eine ganze Wohnung voll …
Der Unterschied ist: Messies bewahren nicht nur viele Erinnerungsstücke auf, sondern auch viele Dinge, die für andere Leute nutzlos und wertlos sind. Sie sehen einen Verwendungszweck darin. Sie sind oft kreativ und interessieren sich für viele unterschiedliche Themen. Da die meisten sehr sparsam sind, gibt es unter ihnen auch viele Schnäppchenjäger.
Was weiss man über die Ursachen, die zum Messie-Syndrom führen?
Ein Erklärungsansatz ist, dass Messies in der Kindheit über längere Zeit einen Mangel an Zuwendung erlebten oder in einer kühlen Familienatmosphäre aufgewachsen sind. Es gibt aber auch Menschen, die später ein Trauma erlebten.
Wie merkt man, ob jemand im Umfeld betroffen ist?
Das ist sehr schwierig. Das häufigste Anzeichen ist sicher, wenn jemand um jeden Preis verhindern möchte, dass man in seine Wohnung kommt. Oft werden Vermieter skeptisch, wenn über Jahre keine Handwerker in die Wohnung gelassen werden.
Gibt es noch andere Anzeichen?
Es gibt Messies, die Mühe haben, sich im Alltag zu strukturieren, Termine einzuhalten oder Rechnungen zu zahlen. Es gibt einige Überschneidungen mit ADHS, worunter gut 20 Prozent der Betroffenen tatsächlich zusätzlich leiden.
Auch die Verbindung mit weiteren psychischen Beeinträchtigungen ist nicht selten.
Das stimmt. Eine Wechselwirkung mit Depressionen oder Angststörungen kommt öfter vor.
Wie reagiere ich als Angehörige, wenn ich das Gefühl habe, jemand könnte ein Messie sein?
Das Wichtigste ist, die Beziehung zu pflegen und sich nicht abzuwenden, auch wenn Besuche immer wieder ausgeschlagen werden. Man sollte über die verschiedenen Hilfsangebote informieren wie Psychotherapie, Ordnungscoaches und psychiatrische Spitex. Zudem gibt es Selbsthilfegruppen, bei denen man sich unverbindlich melden kann.
Soll man Hilfe beim Aufräumen anbieten?
Das bringt meist nichts, weil sich die Person für ihre Unordnung schämt und wahrscheinlich sagt, dass sie bald selbst mit Aufräumen beginnen wird.
Ist pathologisches Horten heil- oder therapierbar?
Das hängt davon ab, wie lange die Krankheit schon dauert und ob andere psychische Erkrankungen dazukommen. Bei Ängsten, Depressionen oder Traumata müssen diese in einer Therapie auch behandelt werden. Beim Messie-Syndrom hat sich die kognitive Verhaltenstherapie als hilfreich erwiesen. Dann muss man die Sucht bekämpfen, was das ständige Kaufen, Sammeln und Horten in gewisser Weise ist. Es soll eine innere Leere füllen, und man versucht, Alternativen dafür zu finden.
Zum Beispiel?
Am besten wären mehr soziale Kontakte und neue Freizeitbeschäftigungen, um das Interesse weg von Gegenständen hin zu anderen Themen zu lenken.
Und dann kann man Tabula rasa machen und die ganze Sammlung wegschmeissen?
So einfach ist es leider nicht, das muss man langsam angehen. Die Drei-Kisten-Strategie hat sich gut bewährt: In die eine kommen Dinge, die man sicher behalten möchte, in die zweite solche, die man weggeben kann, und in die dritte Dinge, die man vielleicht nochmal braucht.
Kann ein Messie vollständig geheilt werden?
Für eine langfristige Veränderung muss man dem Auslöser des Messie-Syndroms auf den Grund gehen. Warum hat zum Beispiel der Tod der Mutter ein solches Trauma ausgelöst?
Wie lange dauert eine Therapie?
Im Schnitt etwa ein bis zwei Jahre.