Selektiver Mutismus
Wenn das Sprechen für Kinder zur Mutprobe wird

Zu Hause spricht die kleine Sophie wie ein Buch – im Kindergarten schweigt sie. Das Mädchen leidet an selektivem Mutismus. Der ist gar nicht so selten, wird aber oft nicht erkannt. Eine Expertin erklärt, wie man ihm auf die Spur kommt und wie man ihn therapiert.
Publiziert: 31.03.2025 um 16:59 Uhr
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Aktualisiert: 31.03.2025 um 17:17 Uhr
Ihrer Kindergärtnerin fällt auf, dass Sophie kaum spricht. Ihre Eltern sind erstaunt, denn zu Hause redet sie wie ein Wasserfall. (Symbolbild)
Foto: Keystone

Darum gehts

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Fabienne EichelbergerFreie Journalistin Service-Team

Gabriela Keller erinnert sich noch genau an den Abend, an dem sie zum ersten Mal den Begriff «selektiver Mutismus» gehört hat. Es war vor rund drei Jahren, als die Kindergärtnerin ihrer Tochter Sophie (8) ihr und ihrem Mann mitteilte, dass Sophie davon betroffen sein könnte. «Sie tat das auf behutsame Weise – trotzdem war der Schock gross», sagt Gabriela Keller, die im echten Leben anders heisst und zum Wohle ihrer Tochter anonym bleiben möchte.

Selektiver Mutismus ist eine emotional bedingte Sprechblockade, die nach dem internationalen Diagnosesystem ICD-11 zu den Angststörungen zählt und im frühen Kindesalter beginnt. Spezialisierte Fachpersonen bezeichnen selektiven Mutismus jedoch treffender als unwillkürliche Stressreaktion des autonomen Nervensystems. Betroffene sind im Grunde in der Lage zu sprechen und tun dies in vertrauter Umgebung auch. Sobald sie diese jedoch verlassen oder mit fremden Personen in Kontakt kommen, verstummen und erstarren sie plötzlich. Das geschieht, weil ihr Nervensystem sie als Schutzreaktion sofort in einen «Freeze»-Zustand versetzt. 

In jedem Schulhaus mehrere betroffene Kinder

Schätzungsweise 7 bis 20 von 1000 Kindern sind von selektivem Mutismus betroffen. Die Psychologin Franziska Florineth sagt: «In jedem grösseren Schulhaus sitzen eine Handvoll Kinder mit selektivem Mutismus.» Tendenziell würden es immer mehr werden. Da diese Kinder oft sehr pflichtbewusst sind und den Unterricht nicht stören, gehen sie im Schulbetrieb häufig unter. «Es ist deshalb wichtig, Lehrpersonen auf diese sehr ernst zu nehmende Störung, die Auswirkungen auf die ganze Lebenskarriere hat, zu sensibilisieren», sagt Franziska Florineth. 

Franziska Florineth ist Fachpsychologin für Psychotherapie, Integrative Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie zertifizierte ADHS-Elterncoach und Kinderhypnotherapeutin. Sie ist auf selektiven Mutismus spezialisiert und hat schon über 100 Kinder therapiert. Zudem hat sie das Buch «Das stille Kind ist das vergessene Kind» geschrieben.
Foto: zVg

Für Eltern sei es schwierig zu erkennen, dass ihr Kind an selektivem Mutismus leidet. «Die Kinder haben meist zwei Gesichter», erklärt die Psychologin. Zu Hause seien sie mitunter laut, aktiv und fordernd, im Kindergarten oder in der Schule jedoch defensiv, schüchtern und zurückgezogen. Manchmal wird auch mit einzelnen Verwandten nicht gesprochen. Das Verstummen tritt aber hauptsächlich im Bildungskontext auf. So verstummt das Kind etwa, sobald es sich der Schule nähert. «Erfahren die Eltern, dass ihr Kind im schulischen Rahmen gar nicht oder kaum spricht, verstehen sie die Welt nicht mehr.»

Genau so erging es Gabriela Keller. Sie sagt: «Sophie sprach daheim wie ein Buch und hatte früh einen grossen Wortschatz.» Im Kindergarten machte sie davon jedoch selten Gebrauch. Fühlte sie sich unbeobachtet und sicher, konnte sie mit einem vertrauten Gspänli zwar normal sprechen. Realisierte sie aber, dass ihr andere Kinder oder Erwachsene zuhören, verstummte sie. Im Nachhinein erinnert sich Gabriela Keller an Situationen, in denen Sophie mit den Nachbarskindern spielte, deren Eltern auf Fragen aber nicht antwortete. Sie habe sich deshalb jedoch nie Sorgen gemacht und sei davon ausgegangen, dass ihre Tochter bloss schüchterner ist als andere Kinder. «Aus heutiger Sicht empfinde ich dieses Denken als ignorant», sagt sie selbstkritisch. Für sie sei es aber logisch gewesen, dass ihre Tochter eher zurückhaltend sei, da auch sie und ihr Mann keine lauten Kinder waren. 

Gute Heilungschancen dank Therapie

Eine familiäre Veranlagung für ein gehemmtes Temperament ist einer von verschiedenen Risikofaktoren für selektiven Mutismus. Weitere sind unter anderem eine Sprachentwicklungsstörung, Mehrsprachigkeit, Migration sowie prä- und postnatale Komplikationen. Behandelt man den Mutismus frühzeitig, ist die Chance gross, dass er verschwindet. «Die Erfolgschancen liegen bei über 70 Prozent», sagt Franziska Florineth. Dass Betroffene den Mutismus ohne Therapie überwinden, komme hingegen selten vor – «aber es ist nie zu spät für eine Behandlung.»

Gabriela Keller suchte rasch Hilfe für ihre Tochter. Bereits beim ersten Telefonat mit Franziska Florineth konnte ihr die Psychologin Ängste nehmen: «Sie versicherte mir, dass Sophie geholfen werden kann», erinnert sich Gabriela Keller. Die Expertin habe aber auch gesagt, dass selektiver Mutismus nicht nach zwei, drei Therapiestunden verschwinde, sondern Geduld gefordert sei.

Auch Eltern und Lehrpersonen sind gefordert

Im Grunde wollen diese Kinder kommunizieren. Gelingt der sprachliche Austausch nicht, ist das oft mit grossem Leid verbunden. Lehrpersonen sollten deshalb spätestens dann genauer hinschauen und sich an eine Fachperson wenden, wenn ein deutschsprachiges Kind nach zwei Monaten noch nicht spricht. Fremdsprachigen Kindern gibt man zirka sechs Monate Zeit. 

Das Gelingen der Therapie ist dann auch davon abhängig, dass nebst den Eltern auch die Lehrpersonen eng mit der Therapeutin zusammenarbeiten. Die Eltern sollten das Sprechen in der Öffentlichkeit mit dem Kind immer wieder in kleinen Schritten und in Absprache mit der Therapeutin üben. Das führt zu einer nachhaltigen Stabilisierung der Emotionen und baut die Angstblockaden mit der Zeit ab. Gabriela Keller hat ihre Tochter zum Beispiel beim Einkaufen stets ermutigt, auf Fragen zu antworten – auch wenn es nur ein knappes «Ja» oder «Nein» war. Klappte es nicht, stand sie für Sophie ein und erklärte: «Wir üben das mutige Sprechen noch.» Generell habe sie immer positive Formulierungen gewählt und das Adjektiv «schüchtern» aus dem Vokabular verbannt. So sagte sie zu Sophie nie: «Jetzt warst du gar nicht schüchtern», sondern: «Wow, jetzt warst du mutig.» 

Dank der Therapie erzielte Sophie rasch Fortschritte. Kürzlich habe sie sogar im Schultheater eine Sprechrolle angenommen. Für Gabriela Keller ist klar: «Das haben wir Frau Florineth zu verdanken, die nicht nur die Therapeutin von Sophie war, sondern im Grunde auch von mir und meinem Mann.» 

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