«Der Arbeitgeber muss die Diagnose nicht wissen»
Wie finde ich trotz psychischer Einschränkung eine Lehrstelle?

Die Zahl der Jugendlichen mit psychischen Belastungen nimmt seit Jahren zu. Das hat auch Auswirkungen auf die Berufsbildung. Spezialisierte Job-Coaches helfen den jungen Menschen, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.
Publiziert: 07.01.2025 um 13:00 Uhr
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Aktualisiert: 07.01.2025 um 15:35 Uhr
Die Lehrstellensuche ist für Jugendliche mit psychischer Belastung eine grosse Herausforderung.
Foto: jeshoots.com/Unsplash

Auf einen Blick

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Fabienne EichelbergerFreie Journalistin Service-Team

Die Warteliste bei Jugendpsychologinnen und -psychologen ist lang, Pro Juventute berichtet in ihrer jüngsten Studie zur psychischen Verfassung von Jugendlichen, dass der Aufwand der Beraterinnen und Berater bei der Notrufnummer 147 seit 2019 um über 70 Prozent zugenommen hat. Auch eine Studie von Unicef Schweiz und Liechtenstein kam zum Schluss, dass ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen unter psychischen Problemen leidet.

Nun sollen sich die Teenager genau in dieser Zeit entscheiden, welchen beruflichen Weg sie einschlagen möchten. Eine riesige Herausforderung für psychisch belastete Menschen. Nicole Bussmann Cal ist Gründerin der Berufsbildneria, die betroffene Jugendliche und Eltern bei der Lehrstellensuche unterstützt.

Nicole Bussmann Cal, spüren Sie in Ihrem Berufsalltag, dass psychische Leiden bei Jugendlichen zunehmen?
Nicole Bussmann Cal: Ja, als ich die Berufsbildneria vor elf Jahren gründete, wiesen ungefähr 40 Prozent unserer Kundinnen und Kunden psychische Besonderheiten auf. Heute sind es 70 bis 80 Prozent. Momentan coachen wir Jugendliche mit Ängsten, Panikattacken, Soziophobien, ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Depressionen und Persönlichkeitsstörungen. Dadurch, dass immer mehr junge Menschen solche Diagnosen mitbringen, hat sich viel verändert.

Zum Beispiel?
Früher begannen wir mit der Unterstützung erst, wenn die jungen Menschen «gesund» waren. Mittlerweile beginnt unser Coaching oft, wenn sie noch in einer stationären Einrichtung oder ambulanten Therapie sind. Dies, weil die Berufsintegration heute als Bestandteil des Gesundwerdens betrachtet wird. Visionen und Ziele unterstützen die Genesung. Die Therapien und unser Coaching ergänzen sich.

Wie gehen Sie bei der Berufsberatung dieser Jugendlichen vor?
Im Zentrum steht bei uns nicht die Diagnose, sondern wir fokussieren uns auf die individuellen Fähigkeiten, Bedürfnisse und beobachtbaren Funktionseinschränkungen. Wir klären beispielsweise ab, ob jemand Regeln gut einhalten kann, wie flexibel er oder sie auf Veränderungen reagiert, und wie das Zeitmanagement und das Einbringen in ein Team funktionieren. Die Symptome der Krankheiten haben natürlich einen Einfluss darauf, welche Berufe wir vorschlagen.

Sollte der potenzielle Lehrbetrieb die Diagnose wissen?
Nein, das könnte zu Stigmatisierungen führen. Kennt der Arbeitgeber etwa aus seinem Privatleben jemanden mit der Diagnose Borderline, schliesst er gleich darauf, dass seine lernende Person dieselben Verhaltensweisen an den Tag legt. Aber nur weil man einen Menschen mit einem entsprechenden Syndrom kennt, kann man nicht auf andere schliessen. Eine Diagnose allein sagt noch nicht viel über den Menschen aus. Wir thematisieren deshalb lieber konkret, womit der betroffene Mensch im Alltag Mühe hat und worauf man im Umgang mit ihm achten sollte.

Wie reagieren die Lehrbetriebe auf diese Offenheit?
Die meisten schätzen Transparenz sehr und sind in der Lage, mit solchen Problemen umzugehen. Sprechen die Jugendlichen selbst über ihre Besonderheiten, geht der Betrieb noch gezielter und respektvoller auf sie ein. Es dient niemandem, wenn Themen vertuscht werden und zu einem späteren Zeitpunkt «aufpoppen».

Wie können die Eltern ihre Kinder bei der Berufswahl und während der Ausbildung unterstützen?
Wichtig ist, keinen Druck aufzubauen. Ich habe schon oft erlebt, dass Eltern ihre Kinder zu stark pushen – meist in guter Absicht, weil sie sich um ihre Zukunft sorgen. Manchmal führen aber kleinere Schritte schneller zum Ziel. Es muss nicht immer sofort eine Lehre sein. Ist jemand dazu noch nicht bereit, können Überbrückungsangebote wie das zehnte Schuljahr, ein Praktikum oder bei geringerer Belastbarkeit ein Aufbautraining mit langsamer Steigerung sinnvoll sein.

Was beinhaltet ein Aufbautraining?
Hier lernen die jungen Menschen, an einer Arbeitsstelle Präsenz aufzubauen, ohne dass ein grosser Druck auf ihnen lastet. Das Aufbautraining kann in einem Betrieb stattfinden, in dem völlig andere Arbeiten ausgeführt werden, als dies in ihrem späteren Lehrbetrieb der Fall sein wird. Aktuell betreue ich beispielsweise Jugendliche in einem Brockenhaus, in einer Hunde-Kita, einer Gärtnerei und einem Altersheim. Oft arbeiten sie zu Beginn nur 20 bis 40 Prozent, teilen das Pensum aber auf mehrere Wochentage auf. So lernen sie, regelmässig rauszugehen, den ÖV zu nutzen und sich ihren Ängsten zu stellen. Mit der Zeit erhöhen wir das Arbeitspensum. Bevor sie die Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt beginnen, müssen sie fähig sein, 80 bis 100 Prozent Präsenz zu leisten.

Unterstützen Sie die Lernenden nach Abschluss eines Lehrvertrags weiterhin?
Ja, oft nehmen wir eine Vermittlerrolle zwischen Lernenden, Eltern, Betrieb und Berufsschule ein. Wir erklären den Beteiligten, worauf es zu achten gilt, und versuchen, Ängste und Unsicherheiten zu nehmen.

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