Auf einen Blick
Aus einem Buch vorlesen oder Vorträge zu halten, seien für ihn als Kind eine Tortur gewesen, erzählt der aktuelle Schweizer TV-«Bachelor» Dennis Marbacher (32) in verschiedenen Interviews. Schulkameraden haben sein Stottern nachgeäfft, ihn sogar gemobbt. «An Unterhaltungen habe ich mich irgendwann so gut wie gar nicht mehr beteiligt.»
Marbachers Erfahrungen sind leider recht typisch für einen Stotterer, sagt Logopäde Wolfgang G. Braun (63), Dozent und Leiter eines jährlichen Stottercamps an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Die Sprechstörung wird immer wieder mit mangelnder Intelligenz in Verbindung gebracht – auch wenn allgemein bekannt ist, dass Albert Einstein gestottert hat.
Woher kommt Stottern?
«Es handelt sich um eine neurologisch bedingte Störung des Redeflusses, bei der oft auch erbliche Veranlagung eine Rolle spielt», erklärt Wolfgang G. Braun. Die ebenfalls weit verbreitete Meinung, Stottern habe psychische Ursachen, ist genauso falsch wie die Mär mit der fehlenden Intelligenz. Mobbing löst kein Stottern aus. Wenn ein Kind aber umgekehrt wegen seines Sprechfehlers geplagt wird, entwickelt es Ängste, was das Stottern noch verstärkt. Buben sind übrigens etwa viermal so häufig betroffen wie Mädchen, da das männliche Gehirn für sprachliche Leistungen störungsanfälliger ist.
Wie merke ich frühzeitig, ob mein Kind stottert?
In der Schweiz sind gut 80’000 Menschen Stotterer. Bei den meisten entwickeln sich zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr erste Anzeichen, wenn in der Sprachentwicklung die Bildung von ganzen Sätzen beginnt. Wie aber merke ich, ob Sprachstolperer oder Wortwiederholungen, die beim Sprechenlernen durchaus normal sind, Zeichen von Stottern sein könnten? «Wenn das Kind sich verzweifelt bemüht, etwas zu sagen, aber das Wort will einfach nicht rauskommen, es beim Sprechen angespannt ist und vermehrt Gesprächssituationen vermeidet, dann ist eine Beratung und Abklärung sicher hilfreich», so Wolfgang G. Braun.
Wie reagiere ich richtig, wenn jemand stottert?
Ratschläge wie «Luft holen» oder «ganz langsam sprechen» sind gut gemeint, aber kontraproduktiv, so der Experte. «Sie geben dem Kind das Gefühl, etwas falsch zu machen.» Besser: Geduld haben, warten, Blickkontakt halten und vor allem: Auf den Inhalt des Gesagten reagieren, nicht auf die Art und Weise, wie es gesagt wird. Eine echte Herausforderung sind stotternde Kinder für Lehrpersonen. «Hier hilft es, das Kind zu fragen, was ihm am meisten hilft, um am Unterricht teilnehmen zu können. Zum Beispiel, dass es Vorträge auf Video aufnehmen und am Vortragstag abspielen darf – das nimmt sehr viel Druck weg.»
Kann man Stottern heilen?
Stottern kann man durch Therapie und Strategien gut bewältigen. Eine vollständige «Heilung» im Sinn eines völligen Verschwindens ist besonders bei Erwachsenen selten. Je früher die Therapie beginnt, desto höher sind die Chancen.
Die Stottertherapie unterteilt sich in zwei grundsätzliche Ansätze, erklärt Wolfgang G. Braun. Beim ersten, der sogenannten Stotter-Modifikation, geht es darum, das Stottern als Eigenart des eigenen Sprechens wahrzunehmen und die Angst vor dem Reden, vor dem Stottern abzubauen. Bei Kindern geschieht das spielerisch: «Froschwörter» sind Wiederholungen, «Schlangenwörter» sind langgezogene Laute. Das Kind kämpft nicht mehr gegen sie an – das reduziert die Symptome deutlich. Beim zweiten Ansatz, der Sprech-Modifikation, ändert man bewusst die Art, zu reden, spricht langsamer, ruhiger, deutlicher, und verringert damit die Gefahr des Stotterns. Übrigens eine Strategie, die sich durchaus auszahlen kann: Marilyn Monroe (1926-1962) hat ihre Art zu reden in ein Hauchen abgeändert – was schliesslich zu ihrem Markenzeichen wurde.
Was, wenn ich als Jugendlicher oder Erwachsener noch immer stottere?
Bei den meisten Menschen bewirkt die Therapie sehr viel. In gewissen Situationen kommt der Stotterer allerdings immer wieder mal zum Vorschein. «Manchmal verschlucke ich noch einzelne Worte, oft in angespannten Situationen», sagt Dennis Marbacher.
Der Logopäde rät zu Offenheit: «Wer zum Beispiel bei einem Bewerbungsgespräch gleich zu Anfang sagt, wenn man aufgeregt sei, könne es zu Stottern kommen, nimmt sich selbst viel Druck. Darauf zu hoffen, das Stottern zu kaschieren, klappt meist nicht.» Ausserdem habe die Kommunikationsbeeinträchtigung durchaus auch positive Folgen. Wolfgang G. Braun: «Menschen, die stottern, haben aufgrund ihrer Geschichte oft eine hohe Sozialkompetenz, können gut zuhören und sind sensible Menschen mit vielen attraktiven Fähigkeiten.» Das kann Dennis Marbacher nur bestätigen: «Könnte ich dem jüngeren Dennis sagen, dass dereinst so viele Frauen um ihn kämpfen werden – er würde es nicht glauben.»