Emotionen – manche Menschen haben sie total im Griff, andere werden sichtbar von ihren Gefühlen geleitet. Doch was ist, wenn jemand weder seine eigenen, noch die Emotionen anderer überhaupt wahrnimmt?
Genau damit beschäftigt sich Emotionscoach Carlotta Welding seit über zehn Jahren. In Ihrem neuen Buch «Fühlen lernen» geht sie der Ursache dafür auf den Grund, dass wir oft unsere eigenen Emotionen nicht verstehen. Im Interview mit Blick erzählt die 36-Jährige mehr über das Persönlichkeitsmerkmal, über das sonst eher selten gesprochen wird.
Blick: Wenn man das Wort Gefühlsblindheit hört, kann man sich nur ansatzweise etwas darunter vorstellen. Was bedeutet es, wenn jemand gefühlsblind ist?
Carlotta Welding: Gefühlsblindheit bedeutet, dass man seine eigenen Gefühle und die anderer Menschen schlecht identifizieren und wahrnehmen kann. Betroffene werden oft als unterkühlt, kopfgesteuert und rational wahrgenommen.
Das sind nicht unbedingt schlechte Eigenschaften. Wie kann einem das im Alltag trotzdem zum Verhängnis werden?
Es ist häufig der Fall, dass ein gefühlsblinder Mensch von seinen Mitmenschen immer wieder gespiegelt bekommt, dass er anders ist – dass er sich nicht öffne, nie über seine Gefühle rede, nicht erkenne, wie es dem Anderen geht usw. Das kann dann natürlich doch zu Unzufriedenheit führen.
Kann Gefühlsblindheit in gewissen Situationen auch von Vorteil sein?
Es gibt sicherlich Situationen, gerade in beruflichen Kontexten, wo es von Vorteil sein kann, sich vollkommen auf die Sache zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen. Gefühlsblinde Menschen können beruflich genauso erfolgreich sein wie nicht-gefühlsblinde.
Und privat? Inwiefern stellt das Persönlichkeitsmerkmal ein Hindernis für romantische Beziehungen dar?
Es gibt gefühlsblinde Menschen, die stabile und lange Partnerschaften führen. Oftmals sind sie loyal, treu und verlässlich in Liebesbeziehungen. Allerdings ist es auch nicht selten der Fall, dass gefühlsblinde Menschen Schwierigkeiten haben, intime Beziehungen zu führen bzw. überhaupt erst aufzubauen, weil es ihnen schwerfällt, sich zu öffnen. Sie bekommen dann von ihrem Gegenüber gespiegelt, dass sie unnahbar sind, unterkühlt und niemanden an sich herankommen lassen. So kommt es dann oft dazu, dass entweder ernstzunehmende Beziehungen gar nicht erst entstehen oder dass Beziehungen nicht lange anhalten.
Letztlich kommt es eben auf die Passung an: Jemand, der enge Verbundenheit sucht, wird vermutlich mit einem gefühlsblinden Menschen nicht glücklich werden; jemand der einen verlässlichen Teamplayer an seiner Seite sucht, vielleicht schon.
Der Titel Ihres Buches lautet «Fühlen lernen». Wie ist dies zu verstehen? Können Betroffene wirklich lernen, Emotionen wahrzunehmen?
Die Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, aber es gibt einige vielversprechende Ansätze. Lernen, die eigenen Gefühle in Worte zu fassen führt zu einer gewissen Sensibilisierung und einer gesteigerten Hellhörigkeit für das, was im Inneren vor sich geht, sollte es auch noch so zart und leise und schwer wahrnehmbar sein.
In meiner Arbeit versuche ich Emotionen immer wieder in den Fokus zu rücken und dadurch den Menschen ihre Scheu davor zu nehmen; ich versuche, ihnen ihre eigenen Emotionen besser verständlich zu machen, so dass die Berührungsängste weichen und sie schliesslich einen eigenen Zugang zu ihren Gefühlen finden.
Aufklärung über dieses Thema ist ein weiterer wichtiger Punkt, denn das Phänomen ist erstaunlich wenig bekannt dafür, dass jeder Zehnte davon betroffen ist.
Was sind erste Schritte, wenn man Gefühlsblindheit «bekämpfen» möchte?
Die Bereitschaft, etwas zu ändern, ist bereits ein ganz grosser Schritt. Setzen Sie sich mit dem Thema auseinander, suchen Sie möglicherweise andere Betroffene auf – es gibt zum Beispiel Selbsthilfeforen im Internet. Und suchen Sie sich schliesslich professionelle Hilfe.