Darum gehts
Soll ich meinen Kolleginnen und Kollegen erzählen, dass ich kurz vor der Scheidung stehe? Oder anders gefragt: Möchte ich, dass mir jemand im Büro so etwas anvertraut?
Fragen wie diese wirken banal, berühren aber ein grundsätzliches Thema: Wie viel Persönliches ist im Arbeitsalltag erlaubt – oder sogar nötig?
Altes Motto ist realitätsfremd
Lange galt eine klare Regel fürs Büro: Privates bleibt draussen. Wenn es nach Fachpersonen wie Liz Fosslien (39) geht, ist dieses Motto aus heutiger Sicht realitätsfremd. «Menschen sind emotionale Wesen – egal, unter welchen Umständen», schreibt sie in «No Hard Feelings», ihrem «New York Times»-Bestseller über Emotionen im Berufsleben.
Fosslien argumentiert, dass die moderne Arbeitswelt von uns verlangt, Gefühle nicht nur zuzulassen, sondern sie konstruktiv zu nutzen. «Aber die meisten von uns haben nie gelernt, wie das geht.»
Wer Gefühle im Arbeitsumfeld ignoriere, übersehe wichtige Hinweise und treffe schlechtere Entscheidungen. «Wir kommunizieren ungeschickt, spüren keinen Sinn mehr in dem, was wir tun, und brennen aus.»
Die grosse Herausforderung besteht laut Fosslien darin, die Balance zu finden zwischen angemessenem Teilen von Persönlichem und sogenanntem Oversharing (übermässigem Teilen).
Der Schlüssel liege darin, sich «selektiv verletzlich» zu zeigen. Und zwar in Situationen, in denen nicht geäusserte Gefühle Schaden anrichten könnten – bei einem selbst und bei anderen. Wie «Selective Vulnerability» geht, erklärt Fosslien in vier Schritten.
Erkläre deine Gefühle
Wenn du versuchst, schlechte Laune zu überspielen, verraten dich Körperhaltung und Gesichtsausdruck meistens. Wenn du dann noch hörbar auf deiner Tastatur herumhämmerst, sorgt das zusätzlich für schlechte Stimmung. Deine Kolleginnen und Kollegen fragen sich, ob sie etwas mit deiner Gereiztheit zu tun haben. Wenn deine schlechte Laune nichts mit dem Job zu tun hat – sondern zum Beispiel damit, dass dein Kind am Morgen getrödelt hat –, reicht ein Satz wie: «Falls ich genervt wirke: Ich hatte einen anstrengenden Morgen.»
Verstehe deine Gefühle
Wenn du zum Beispiel bei der Arbeit plötzlich alle um dich herum als nervig empfindest, halte einen Moment inne und probiere, der Ursache deiner Befindlichkeit auf den Grund zu gehen. Oft steckt etwas ganz Konkretes dahinter – zum Beispiel eine Deadline, die näher rückt und Druck aufbaut. In solchen Momenten hilft es, das offen anzusprechen. Du könntest deinen Kolleginnen und Kollegen mitteilen, dass du den Zeitplan im Blick hast – und vorschlagen, gemeinsam realistisch zu planen, damit das Projekt rechtzeitig fertig wird.
Versetze dich in andere hinein
Bevor du etwas Persönliches von dir preisgibst, versetze dich in die Person hinein, der du dich anvertrauen willst. Hast du das Gefühl, dass sie dich danach besser unterstützen kann – und deine Situation besser versteht –, dann sprich offen. Vielleicht fällt es dir gerade schwer, dich zu konzentrieren, weil ein Elternteil im Spital liegt. In einem solchen Fall kann ein kurzer Hinweis helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Aber wenn du auch nur einen Moment bei der Selbstbeantwortung der Frage zögerst, ob deine Offenheit zu mehr Klarheit führt, ist es besser, Persönliches für dich zu behalten.
Schätze die Lage richtig ein
Wenn dein Team seit Wochen Überstunden für ein Projekt macht, ist es nicht der richtige Moment, um ungefragt über persönliche Befindlichkeiten zu sprechen. Stattdessen könntest du dich an eine Person wenden, die besonders gestresst wirkt – und das behutsam ansprechen. Zum Beispiel, indem du vorschlägst, gemeinsam bei der Teamleitung anzufragen, ob sich eine Sitzung verschieben lässt, damit alle etwas mehr Luft haben. Mitgefühl zu zeigen, ist eine Form, sich jemandem gegenüber zu öffnen. Eine Form, die Verbindung schafft.