Auf einen Blick
Dass man sich über den Typen nervt, der im Kino hinter einem eine halbe Stunde mit dem Popkorn raschelt, ist nachvollziehbar. Bei der Misophonie geht es um weit leisere Töne, die Betroffene schmerzhaft irritieren und wahnsinnig wütend machen.
Verdeutscht bedeutet der altgriechische Begriff Misophonie «Hass auf Geräusche». Der «Hass» geht meistens einher mit Wut auf die Person, die das Geräusch verursacht. Die einen Kaugummi kaut, ein Stück Brot verzehrt, mit Zellophan knistert, mit Zeitungspapier raschelt oder mit einer Computertastatur klimpert.
Betroffene der Überempfindlichkeit beginnen sich im Extremfall zu isolieren, was sie familiär und beruflich einschränkt und zu Depressionen führen kann. Seit kurzem werden immer mehr Studien zum Thema veröffentlicht. Forscher gehen von 5 bis 20 Prozent Betroffenen aus. Doch es gibt Abhilfe – auch für harmlosere Ausprägungen.
Denn oftmals geht die Überreaktion auf Erlebnisse in der Vergangenheit eines Menschen zurück. Mark Zachary Rosenthal ist Leiter einer Abteilung der Duke Universität in North Carolina (USA), die ausschliesslich zum Thema Misophonie forscht und Betroffene psychologisch behandelt.
Leises Schmatzen vom alkoholkranken Vater
Rosenthal schildert im amerikanischen Online-Portal «Psyche» den Fall einer Patientin, die als Kind mit ihrem alkoholkranken Vater Fernsehen schauen musste, wenn sie von der Schule nach Hause kam.
Eine für sie unangenehme Situation, die von ununterbrochenem, leisen Schmatzgeräusch begleitet war, das ihr Vater im Rausch von sich gab.
Hörte die Patientin später – als Erwachsene – ein ähnliches Geräusch, fühlte sie sich sofort wieder angeekelt und gefangen in einer unerträglichen Situation.
Eine klassische Konditionierung, die gemäss Rosenthal abgeschwächt werden kann, wenn man sie mit einem Geräusch paart, das ein Gegenstand oder eine Tätigkeit verursacht. Für die Patienten werden Schmatzgeräusche abgespielt. Gleichzeitig sehen sie sich Videos an, in denen zum Beispiel ein Besen zu sehen ist, der über einen Boden wischt, oder Hände, die einen Teig kneten.
Situation Familientisch
Eltern können dafür sorgen, dass solche Konditionierung bei ihren Kindern gar nicht erst entstehen. Davon ist Andreas Seebeck überzeugt, Autor des Ratgebers «Glücklich leben mit Misophonie». Er plädiert dafür, Kinder nicht dazu zwingen, am Esstisch sitzen zu bleiben, wenn sie fertig mit essen sind – und dann schlechte Laune bekommen.
Wenn sie in dieser unbefriedigenden Situation gefangen seien und nur das Kauen der Eltern hören, führe das zu einer negativ behafteten Sensibilisierung auf diese Art von Geräusch. Was natürlich nichts damit zu tun habe, dass man die Person, die dort leise vor sich hin schmatzte oder knuspere, nicht möge, lässt sich Seebeck jüngst in einem Artikel von «Geo» zitiert.
Dort kommt auch die deutsche Psychotherapeutin Anne Möllmann zu Wort. Die Psychotherapeutin und Studienleiterin ist an der Universität Bielefeld tätig, wo seit 2014 zu Misophonie geforscht wird.
Es sei typisch, dass sich die Wut meist an fremde Menschen richte – etwa in der Kantine oder der Pizzeria – sondern auf nahe stehende Personen, sagt sie. Wenn man den Eindruck habe, sein Gegenüber wegen Essensgeräuschen nicht mehr ertragen zu können, laufe das oft auf starke Schuldgefühle hinaus. Vor allem dann, wenn man diese negativen Gefühle gegenüber Partner oder Partnerin empfinde.
Verhasstes Vogelgezwitscher
Stress können auch Geräusche von Tieren erzeugen. Das zeigt der Fall eines anonymen deutschen Managers. Er kommt in einer Folge eines Podcasts zu Wort, der sich ausschliesslich dem Thema Misophonie widmet. Klaus, wie er genannt wird, erzählt, wie er als Kind einen Vogel, der aus dem Nest gefallen war, zu Hause aufpäppeln wollte.
Der Vogel flog aber nicht mehr weg, was Klaus extrem zu beschäftigen begann. Plötzlich war er in seinen Augen verantwortlich für das Leben dieses Tieres – und fühlte sich machtlos. Von da an ging ihm jedes Vogelgezwitscher durch Mark und Bein. Sich im Freien aufzuhalten, wurde zur Tortur.
Irgendwann begann er intensiv Mountainbike zu fahren und hörte dabei so oft Gezwitscher, dass sich die Misophonie irgendwann langsam auflöste. Er habe sich beim Biken stark gefühlt und war nicht in einer Situation gefangen, aus der er nicht heraus konnte, sagt Klaus. Diese Kombination habe langsam dazu geführt, dass das ehemals verhasste Geräusch immer weniger bei ihm auslöste.