Das sagt eine Psychologin dazu
Ist Weinen in der Öffentlichkeit in Ordnung?

Nur selten sieht man einen Erwachsenen, der Tränen vergiesst. Normalerweise kommt es eher im Privaten zu Gefühlsausbrüchen, weshalb es für viele eine ungewohnte Situation ist, wenn man selbst oder auch jemand anders in der Öffentlichkeit weinen muss.
Publiziert: 01.06.2021 um 09:56 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2021 um 09:56 Uhr
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Erwachsene sieht man in der Öffentlichkeit selten weinen.
Foto: Getty Images
Sonja Zaleski-Körner

Die meisten Menschen lassen Tränen nur im Privaten zu und wollen nicht vor anderen ihre Gefühle zeigen. Den Grund dafür erklärt die Zürcher Psychologin und Betriebswirtschafterin Dunja Kalbermatter (40): «Erwachsenen wird das Weinen in der Öffentlichkeit abtrainiert. Das passiert, weil Menschen oft früh im Leben sozial und kulturell konditioniert werden.»

Menschen lernen schon in jungen Jahren, wie sie zu sein haben, damit sie gut in die Gesellschaft passen, erklärt die Expertin im Gespräch mit Blick. Dies geschehe oft über das Elternhaus, die Gesellschaft, die Schule, eine Ausbildung oder Religion.

«Bei dieser Konditionierung passiert es leider oft, dass Menschen den Kontakt zu sich selbst und somit das Bewusstsein zu sich selbst verlieren. Grundsätzlich hätte ja jeder einen eingebauten Kompass, einen Instinkt oder die Intuition, die sie oder ihn ganz verlässlich leitet und gesund bleiben lässt», meint Kalbermatter. Durch die soziale und kulturelle Konditionierung lerne der Mensch, dass Emotionen wie beispielsweise Tränen im öffentlichen Raum nichts zu suchen haben. Je nach Kultur werde bedeckter oder offener mit Emotionen umgegangen, ergänzt die Psychologin.

Man schämt sich, vor anderen zu weinen

Die ungeschriebenen Regeln einer Gesellschaft oder Kultur werden von Generation zu Generation weitergegeben, stellt Kalbermatter klar. Scham entstehe im Austausch mit anderen Menschen. Entwicklungspsychologisch können schon Kinder etwa ab dem Kindergartenalter dies empfinden, wie sie erklärt. Diese Fähigkeit setze eine gewisse Entwicklungsstufe voraus: «Das Kind benötigt ein Selbstbild, aber auch das Wissen um ein Fremdbild, also wie Menschen es sehen und wahrnehmen. Kinder nehmen über ihr Umfeld soziale und kulturelle Normen wahr und lernen, sich nach diesen zu verhalten», so die Expertin.

Es spiele beim Schamgefühl keine Rolle, ob man sich bestimmte Situationen nur vorstelle oder ob etwas in Anwesenheit anderer Menschen passiere. Man schäme sich, weil man eine negative Reaktion des Umfelds befürchte oder bekomme. Wenn es sich laut einer ungeschriebenen Regel zum Beispiel nicht gehört, im öffentlichen Raum zu weinen, obwohl man gerade einen Impuls dazu verspürt, empfindet man Scham, falls es trotzdem passiert, weiss die Psychologin.

«Der Mensch will nämlich grundsätzlich dazugehören – zum Rudel, hier umgemünzt auf die Gesellschaft oder den Kulturbereich. Dementsprechend möchte man auch diese ungeschriebenen Regeln nicht brechen und deshalb fühlen wir Scham», bringt Kalbermatter es auf den Punkt.

Gefühle ehrlich zeigen

Der Körper und der Geist arbeiten laut Kalbermatter sehr eng miteinander. So unterscheide sich zum Beispiel die Zusammensetzung von Freudentränen zu Trauertränen. Durch Tränen helfe der Körper einem, Gefühle zu regulieren, alles wieder in den Fluss zu bringen und angestaute Emotionen abzubauen.

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«Deshalb ist es enorm wichtig, seine Gefühle ehrlich zu zeigen, ansonsten hätten wir auch nicht einen natürlichen Impuls dazu! Oft hat man nach dem Weinen einen klaren Kopf, die nächsten Schritte sind klarer und es stellt sich ein befreiendes Gefühl ein», verdeutlicht die Expertin. Falls es jedoch wirklich unpassend sei, könne man das Weinen – falls möglich – auch auf später in seine eigenen vier Wände verschieben.

Angestaute Gefühle können krank machen

Was passiert, wenn man Tränen unterdrückt und sie auch später nicht zulässt? Kalbermatter sagt, dass so der natürliche Regulationsprozess gestört wird. «Die Gefühle können stecken bleiben und suchen sich schlussendlich andere Wege. Es kann beispielsweise sein, dass man einen Kloss im Hals verspürt, ein Engegefühl im Brustraum oder einen Druck im Kopf oder auf den Augen. Falls Tränen häufig weggedrückt werden, können sich auch längerfristige Folgen ergeben», erklärt sie. Dazu zählen psychosomatische Folgen, wie Migräne, andere Schmerzen, Taubheitsgefühle, ein Tinnitus oder auch Magenprobleme. Schlussendlich könne das Unterdrücken von Weinen sogar zu Depression, Burnout oder Suchtverhalten führen.

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Interessant ist, dass es laut der Psychologin Studien gibt, die besagen, dass Frauen eher als Männer dazu neigen, ihre Tränen zuzulassen. «Dies könnte daran liegen, dass Menschen auch geschlechtsspezifisch konditioniert werden, sozial wie auch kulturell. Es ist noch immer sozial erwünscht, dass Männer stark sein sollen und sie sich vielleicht gerade deswegen weniger emotional verhalten als Frauen, denen diese Eigenschaft zugeschrieben wird», meint die Expertin.

Aufs eigene Bauchgefühl hören

Egal, ob man selbst in der Öffentlichkeit Tränen zulässt oder ob man jemanden weinen sieht – es ist laut Kalbermatter wichtig, dass man einen guten Kontakt zu seiner Intuition oder seinem Bauchgefühl hat. Wer sich von diesem Instinkt entfernt hat, kann seinem inneren Kompass durch tägliche Meditation wieder näherkommen und gleichzeitig Stress abbauen, wie sie durch ihre Arbeit weiss.

«Gehen Sie auf eine weinende Person zu, wenn es Ihnen Ihr Gefühl sagt, oder lassen Sie es sein, wenn es für Sie nicht stimmig ist. Schauen Sie aber auf alle Fälle nicht anschuldigend hin, weil jemand im öffentlichen Raum seine Emotionen zeigt, sondern versuchen Sie es als etwas Alltägliches und Normales anzusehen», rät die Expertin.

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