Manche Themen wie Schule, Arbeit, Ferien, Schauspieler, Sport oder Musik werden offen diskutiert und besprochen. Sie gehören zum Alltagsaustausch dazu, und oft denkt man sich nicht viel dabei. Andere Angelegenheiten werden dagegen bewusst umgangen, da diese Themen bei Menschen ein unangenehmes Gefühl auslösen können. Manche Punkte spricht man besser nicht an – das sind Tabuthemen.
Dunja Kalbermatter (40) ist Psychologin und Betriebswirtschafterin. Im Gespräch mit BLICK spricht sie über noch heute existierende Tabuthemen und deren Herkunft.
BLICK: Welche Tabuthemen finden sich in der heutigen Gesellschaft?
Dunja Kalbermatter: In unseren Breitengraden stellen aus meiner Sicht Religion, Sexualität, Gender, Krankheiten, Tod, Behinderungen und psychische Krankheiten die grössten Tabuthemen dar. Auch über weibliche Themen, wie die Menstruation oder weibliche Sexualität, wird nicht gerne geredet. Das grösste Tabuthema, welchem ich in meiner Arbeit immer wieder begegne, ist allerdings Selbstliebe.
Wieso sind genau diese Themen tabuisiert?
Es sind gesellschaftlich und kulturell bedingte Normen und Sitten, die irgendwann in der Geschichte entstanden sind und durch Sozialisierung übernommen sowie an die nächste Generation weitergegeben wurden. Mit der wandelnden Kultur verändern sich allerdings auch die Tabuthemen. Wenn man in andere Epochen wie beispielsweise das Mittelalter zurückblickt, galten damals andere Normen und Sitten und dementsprechend auch andere Tabuthemen.
Gibt es heute mehr oder weniger Tabuthemen als früher?
Ich denke einerseits, dass die Globalisierung und auch Social Media helfen, Diversität zu zeigen und zu sehen. Man kann dadurch seinen Horizont erweitern und sehen, dass die auferlegten Tabuthemen auch wieder gelöst werden können. Andererseits kann der Schein trügen. Durch den Algorithmus befinden wir uns in virtuellen Bubbles oder in einem eigenen Universum. Der Algorithmus liefert uns noch mehr davon, was uns gefällt und der Rest wird herausgefiltert. Die Gefahr von einseitigem Informationskonsumation steigt dadurch sehr stark an. Das kann wiederum dazu führen, dass die Diversität beim Einzelnen wieder abnimmt.
Sind Tabuthemen auf der ganzen Welt gleich?
Nein, sie sind nicht universell, sondern variieren je nach Kulturkreis und wo man aufwächst. So werden Sie automatisch in eine Religion, Gesellschaft, Familie, ein Umfeld und damit in eine Kultur hineingeboren. Diese hat ihre eigenen Regeln und Tabuthemen.
Wie entwickeln sich folglich persönliche Tabuthemen?
In der Sozialisierungszeit, welche bereits bei der Geburt beginnt, hören Sie viele Geschichten darüber, wie die Dinge sind und wie sie zu sein haben. Auch darüber, wie Sie zu sein haben, damit Sie reinpassen. Sie lernen, über welche Themen Sie sprechen und über welche Sie nicht sprechen sollten. Diese gesellschaftlichen Regeln und Normen übernehmen Sie dann automatisch und das meist recht unreflektiert. Sie werden auch konditioniert, in diesen Mustern zu denken.
Wieso empfinden wir bei Tabuthemen Gefühle wie Scham und Angst?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir sind darauf ausgerichtet, uns zu verbinden, dazuzugehören und gemeinsam zu wachsen. Das Sprechen über Tabuthemen kommt dem Dazugehörenwollen dabei in die Quere. Spricht man über Tabuthemen, sticht man aus der Menge heraus. Das kann Scham oder Angst auslösen, weil Sie dann befürchten, nicht mehr dazuzugehören. Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen sich selbst an die letzte Stelle in ihrem Leben setzen. Das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft Selbstliebe als Egoismus verkauft wird. Wenn man sich selbst an erste Stelle setzt, riskiert man, sich von der Gesellschaft abzuheben. Und das möchte man auf keinen Fall. Deshalb ist Selbstliebe momentan eines der grössten Tabuthemen.
Bei Frauen gibt es deutlich mehr Tabuthemen. Ist das so?
Ich kann mir vorstellen, dass es mit der Emanzipation der Frau zu tun hat. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Frauen noch sehr wenig zu sagen und dementsprechend auch wenig Rechte. Aus diesem Grund könnte es sein, dass das Thema weibliche Sexualität und der möglicherweise damit einhergehende Genuss und das Thema Menstruation sowie Intimhygiene immer noch weitgehend tabuisiert werden.
Und warum schweigt man heute noch oftmals über psychische Krankheiten?
Leider werden diese immer noch stigmatisiert. Obwohl Themen wie Depressionen, Burnout oder Stress inzwischen prominent diskutiert werden, umgibt die psychische Gesundheit immer noch ein Tabu. Dabei wäre es so wichtig darüber zu sprechen, damit Menschen sich Hilfe suchen können. Auch vom Normbild abweichende sexuelle Orientierungen oder Gender werden leider heute noch oft stigmatisiert.