Manchmal sind Dinge, die zu schön scheinen, um wahr zu sein, eben trotzdem wahr. Etwa die Idee, beschädigtes Erbgut, das für unzählige Krankheiten verantwortlich ist, einfach aus den Zellen zu schneiden und mit gesundem Erbgut zu ersetzen. Was klingt wie ein Zaubermärchen, ist Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentiers (55) Beruf – und ihre Berufung. Die Ausnahmeforscherin in den Bereichen Mikrobiologie, Genetik und Biochemie hat 2020 den Nobelpreis für ihre Forschung im Bereich Crispr/Cas9 erhalten.
Jetzt bringt ihre Firma Crispr Therapeutics mit Firmensitzen in Zug, Boston und Philadelphia die erste medikamentöse Therapie für Sichelzellanämie auf den europäischen Markt – soeben wurde das Verfahren in Deutschland zugelassen. Das begeistert auch Fachleute aus der Schweiz: «Das ist eine riesige, weltweit revolutionäre medizinische Leistung!», sagt etwa ETH-Professor Jacob Corn. Der Genombiologe arbeitet mit dem Team seines Forschungslabors Cornlab ebenfalls an genetisch bedingten Bluterkrankungen, etwa der in der Schweiz durch den Kinderarzt Guido Fanconi 1927 beschriebenen Fanconi-Anämie.
Crispr/Cas9 bezeichnet stark vereinfacht ein Verfahren, das es erlaubt, in einer Zelle menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Ursprungs gezielt ein Stück DNA «auszuschneiden» und das entstehende DNA-«Loch» mit einer künstlichen DNA sozusagen wieder zu «stopfen». Mit der Methode, auch «Gen-Schere» genannt, können gezielt neue Eigenschaften in die Zelle eingebracht werden. Teilt sich die Zelle später, dupliziert sie diese.
Die neue Therapie ist erst der Anfang
Charpentiers Firma hat nun ein Crispr/Cas9-Verfahren entwickelt, das Stammzellen so verändert, dass sie nach der Therapie gesunde rote Blutkörperchen produzieren. Klingt einfach, ist aber höchst komplex und für den Patienten eine Tortur: Medizinisches Personal entnimmt aus dem Knochenmark blutbildende Stammzellen und programmiert diese im Labor mit der «Genschere» um. In der Zwischenzeit muss sich der Patient einer Chemotherapie mit allen Nebenwirkungen unterziehen, um die körpereigenen, genetisch beschädigten Stammzellen zu zerstören. Wie bei vielen Chemotherapien können die Nebenwirkungen stark sein: So können Patienten im schlimmsten Fall unfruchtbar werden. Nach der Chemotherapie werden aber die veränderten Stammzellen dem Patienten wieder implantiert – und produzieren danach nachweislich gesunde Blutkörperchen.
Auf diesen Durchbruch sollen in näherer Zukunft noch viele weitere folgen: «Es gibt ungefähr 7000 bis 8000 genetische Krankheiten, die sich eventuell durch noch zu entwickelnde Crispr/Cas-Verfahren heilen lassen könnten», sagt Corn. Aktuell sind rund 300 medikamentöse Therapien diverser Firmen in Entwicklung, 24 davon sind bereits in der Testphase zwei, werden also bereits an Menschen getestet. Corn weiss: «Darunter sind etwa Medikamente gegen Leukämiearten oder muskuläre Dystrophie.»
In der Schweiz muss man auf die Behandlung noch warten
Kleine Wermutstropfen: Die Langzeitfolgen der eben erst zugelassenen Therapie sind noch nicht klar. Crispr Therapeutics verfolgt deshalb Langzeitstudien. Und die Therapie ist bislang sehr teuer: Rund zwei Millionen Franken kostet die Behandlung pro Patient in den USA, die die Therapie als erste vergangenen Dezember zugelassen haben. Für europäische Länder sind die gesamten Kosten noch nicht bekannt. Und wer in der Schweiz an Sichelzellanämie erkrankt ist, muss sich noch etwas gedulden: Swiss Medic hat das Verfahren noch nicht anerkannt.