Mit der Schwimmbrille meines knapp dreijährigen Sohnes betrete ich das Hallenbad. Ich stecke in einem Badeanzug, wie ihn Schwimmerinnen tragen. Hochgeschnitten, schnelltrocknend, sportlich. Da ich Letzteres nicht bin, habe ich etwas Muffensausen vor meiner ersten Kraulstunde. Die Schwimmtrainerin schickt mich duschen, fragt dann nach meiner Schuhgrösse und verschwindet.
Als ich erzählte, dass ich einen Kraulkurs machen möchte, gab es zwei Reaktionen. Die Checker, die sagten: «Kraulen kann doch jeder! Hat man ja in der Schule gelernt!» Und die Bewunderer: «Ah cool, das hab ich mir auch schon überlegt. Ich kann auch nicht kraulen.»
Kraulen ist komplex
Manchmal kraule ich im Wasser einfach drauflos, weil ich Lust dazu habe und weil ich meine, irgendwie kann ich das schon. Ich hab Videos gesehen und weiss: Ich kann es nicht. Hastig patsche ich meine Arme aufs Wasser, während ich nach Luft ringe, zwischendurch bewege ich unkoordiniert meine Beine, weil ich sonst drohe unterzugehen. Nach ein paar Armzügen ist Schluss mit der Comedy. Ich schnappe nach Luft und dreh mich einmal um die eigene Achse, um zu schauen, ob mich jemand beobachtet hat. Dann tauche ich unter. Wortwörtlich.
Ich lese: Kraulen ist die Königsdisziplin und der schnellste Schwimmstil aller vier. Kraulen sei komplex und koordinativ ein anspruchsvoller Bewegungsablauf (sag ich doch!). Die Kraultechnik soll unter Anleitung eines Schwimmtrainers methodisch korrekt erlernt werden.
Ich kontaktiere Gaby. Gaby Reich (48) ist Schwimmtrainerin im AquaRii in Altstätten SG und arbeitet über den Sommer. Schon am Telefon sagt sie mir: «In deiner ersten Stunde wirst du so viel lernen, du wirst begeistert sein.» Die meisten seien nach dem Anfängerkurs angefixt und würden weitermachen.
Sie fragt nie, warum jemand kraulen lernen möchte, sondern: «Wie viel Kraul willst du können?» Ihr Ziel: Nach dem Anfängerkurs sollten ihre Schützlinge 100 Meter kraulen können, das heisst vier Bahnen. Danach kann man aufbauen. Und für ein Danach entscheiden sich die meisten.
Wir starten mit dem Gleiten. Abstossen, Arme nach vorne strecken, Hände zusammen, ausatmen. Augen auf den Boden des Beckens gerichtet, erst auftauchen, wenn die Luft draussen ist. Gleiten sei enorm wichtig, sagt Gaby. Diesen Schwung vom Abstossen am Beckenrand müsse man mitnehmen. «Schwimmer sind die faulsten Sportler», sagt Gaby mit einem Augenzwinkern, «weil sie mit möglichst wenig Bewegung möglichst weit kommen wollen.»
Gaby zeigt mir die richtige Armbewegung und den Beinschlag. Jetzt weiss ich auch, dass die Frage nach der Schuhgrösse nichts mit einem Fetisch zu tun hat, sondern mit Schwimmflossen, die sie mir reicht.
Gleichzeitig etwas mit den Armen und den Beinen machen, aber nicht dasselbe, das ist für viele die Schwierigkeit. Die Koordination macht auch mir zu schaffen. «Nehme ich die Kraft aus den Armen oder den Beinen?», frage ich. «Aus den Armen!», sagt Gaby.
Beim Kraulen flach auf dem Wasser liegen
Gaby steht am Schwimmbadrand, und Gaby sieht alles. Immer wieder ruft sie: «Laaaangsam!» Warum ich denn so hastig sei, will die Trainerin wissen. «Weil ich sonst untergehe!», rufe ich ihr aus dem Wasser zu. «Nein, tust du nicht!» Am sichersten sei die Position, wenn ich flach auf dem Wasser liege – und nicht wenn ich wie wild mit den Armen paddle. Wir würden nicht für einen Wettkampf trainieren, sondern die Technik lernen.
Bahn für Bahn gibt mir Gaby eine weitere Aufgabe. Sie weiss: bloss nicht alles auf einmal. Schwumm für Schwumm. «Durchziehen» ist ein weiteres Thema bei der Armbewegung. Sie lässt mich ausprobieren, wie viel weiter ich komme, wenn ich meinen Arm bei der Kraulbewegung komplett durchziehe. Tatsächlich, beim letzten Stück, wenn ich die Arme bis zu meinen Oberschenkeln nach hinten ziehe, kommt mein Körper noch einmal ordentlich voran.
Als ich Gaby frage, was denn das Schwierigste ist am Kraulen, sagt sie direkt: «Die Atmung.» Tatsächlich. Den richtigen Moment erwischen, den Kopf aus dem Wasser, zur Seite drehen und auf einen Arm stützen. «Du musst dir mehr Zeit lassen. Du tauchst den Kopf schon wieder ins Wasser, während du noch am Luftholen bist, so schluckst du Wasser!»
Spaziert Gaby durchs Schwimmbad, ertönt von allen Seiten ein «Hoi Gaby». Sie hat hier einem Grossteil der Kinder das Schwimmen beigebracht. Ursprünglich gab sie Babyschwimmen und Schwimmkurse für Kinder. Seit zwei Jahren unterrichtet sie Erwachsene.
Aufs Wasser kam sie früh. Als kleines Mädchen hat sie ihre Schwimmflügel durchlöchert, damit sie sie nicht anziehen muss. Sie wollte ohne Schwimmhilfe ins Wasser. Dass sie nicht schwimmen konnte, fuchste sie. Als sie als kleines Mädchen von Bern nach St. Gallen zog, lernte sie schwimmen und machte einen Schwimmkurs nach dem anderen.
Sie wurde Schwimmtrainerin und gründete einen eigenen Schwimmklub. Seit zwei Jahren unterrichtet sie in Altstätten. Gaby sagt: «Ich denke am Morgen als Erstes ans Schwimmen.» Schwimmen sei die beste Altersvorsorge. Gesund schwimmen. Was sie damit meint, erfahre ich im Wasser.
Verspannungen beim Schwimmen
Als wir mit Brustschwimmen weitermachen, fragt sie: «Warum tauchst du den Kopf nicht unter Wasser? So bekommst du Verspannungen im Nacken.» Schwimmen mit erhobenem Kopf, Sonnenbrille auf der Nase und dem Ziel, nicht einmal die Nackenhaare nass werden zu lassen, ist kein Schwimmen. Brustschwimmen sei der schwierigste Schwimmstil, sagt Gaby (Entschuldige Gaby, das musste ich nachlesen!). Gaby hat natürlich recht.
«Ich muss so viel denken», sage ich schnaufend am Beckenrand. Gaby lacht, weil es allen gleich geht. «Da kasch grad ufhöra», sagt Karin neben mir und zieht die Schwimmbrille hoch. Karin ist 61 – und immer gerne geschwommen. «Ich habe Arthrose und darf nicht mehr brustschwimmen. Der Beinschlag ist nicht gut für das Knie. Da beschloss ich, einen Kraulkurs zu machen.» Karin fing im Mai bei Gaby an, zwei Monate später krault sie mühelos ihre Bahnen.
Neben ihr schwimmt Natalja. Die 43-Jährige hat erst gerade schwimmen gelernt. In den Ferien steht sie immer am Ufer, geht höchstens mal wadentief ins Wasser. «Ich hatte grosse Panik, mit dem Kopf unter Wasser zu tauchen», sagt Natalja. Ihre Tochter wollte es ihr immer beibringen, doch sie traute sich nicht.
Dann lernte sie Gaby an einem Fest kennen. Die Schwimmtrainerin sagte: «Komm doch mal zu mir in einen Kurs.» Nun ist Natalja das zweite Mal hier und sagt: «Ich fühle mich schon sicher, war schon mit dem Kopf unter Wasser, ich vertraue Gaby.» Bald kommt ihre Tochter zu Besuch, im Freibad will die Mutter ihr zeigen, was sie kann.
Jan (28) fährt eigentlich Velo. Mountainbike-Marathon. «Ich war früher viel im Wasser, ich war eine richtige Wasserratte, aber mit Schwimmen hatte ich immer Mühe.» Jan will die Technik lernen und schwimmt bei Gaby. An den Anfängerkurs hat er sogleich den nächsten angeschlossen. Fünfmal in der Woche trainiert er auf dem Velo, und einmal die Woche geht er nun auch noch ins Hallenbad. «Man hat eine gewisse Grunderwartung vom Kraulkurs, diese wird übertroffen. Deshalb geht man so gerne.»
Auch ich bin angefixt. Als ich das nächste Mal an einem See bin, laufe ich ins Wasser, ziehe mir die Schwimmbrille über den Kopf und schwimme los. Abstossen kann ich mich nicht, und so wird das Gleiten eine recht kurze Sache (sorry, Gaby!).
Aber ich versuche, an alles zu denken, was man mir beibrachte. Vorerst wird das Kraulen für mich mehr Denkarbeit sein als Spass machen. Aber ich nehms Schwumm für Schwumm. Und höre dabei Gaby im Ohr: «Laaaangsam!»