Auf einen Blick
Die Schweiz ist ein Sozialstaat. Als solcher bietet er zahlreiche Sozialleistungen, die Bürgerinnen und Bürger in finanziellen Engpässen unterstützen sollen. Das Problem? Viele wissen gar nicht, dass sie Anspruch auf diese Leistungen hätten. «Gut 25 bis 50 Prozent der Berechtigten beantragen in der Schweiz keine Finanzhilfen», sagt Corinne Strebel, Leiterin des Beobachter-Beratungszentrums und Autorin des neuen Buches «Finanzhilfen».
Ein Grund dafür sieht sie in den komplexen Prozessen und den hohen Hürden, die Hilfesuchenden in der Schweiz gestellt werden. Wer Hilfe braucht, muss diese aktiv beantragen. «Keine Finanzhilfe wird automatisch ausgelöst, selbst die AHV muss man selbst beantragen», sagt Strebel.
Die grössten Wissenslücken rund um Finanzhilfen
Als Beraterin spricht sie täglich mit Betroffenen und Ratsuchenden. Sie erzählt von den häufigsten Wissenslücken, die ihr begegnen.
Ergänzungsleistungen – Anspruch, aber keine Antragstellung
Die Kriterien für den Bezug von Ergänzungsleistungen sind national klar geregelt – dennoch beziehen sie nicht alle, die Anspruch darauf hätten. «Oft sind Ergänzungsleistungen mit Scham besetzt, es hat einen Touch von Almosen», sagt Strebel.
«Bei der IV oder der AHV gibt es diese Hemmschwelle viel weniger, weil die Leute das Gefühl haben, dass ihnen das Geld zusteht.» Andere wissen gar nicht, dass sie diese Leistung beziehen könnten. Onlinerechner wie der von Pro Senectute helfen dabei, Ansprüche zu prüfen.
Alimentenbevorschussung – nicht automatisch geregelt
«Bei den Alimenten gibt es etwas, das viele Leute nicht verstehen, nämlich die Alimentenbevorschussung», sagt Strebel. Wenn ein Elternteil nach der Trennung den Unterhalt nicht zahlt, kann der andere eine Alimentenbevorschussung beantragen.
Aber aufgepasst: «Ohne einen schriftlichen Vertrag oder Gerichtsurteil gibt es nichts.» Wer nicht verheiratet war und keinen von der Kesb genehmigten Unterhaltsvertrag abgeschlossen hat, kann keinen Anspruch auf Alimentenbevorschussung geltend machen.
Unfallversicherung – teure Fehlannahmen
Auch bei der Unfallversicherung kennt die Beraterin einige Knackpunkte. So schliessen Nichterwerbstätige wie Pensionierte ihre Unfallversicherung in die Krankenversicherung (KVG) ein. Strebel: «Dann gilt eine ganz andere gesetzliche Regelung als bei der Unfallkasse». Du zahlst Franchise und Selbstbehalt, erhältst kein Unfalltaggeld und du kannst keine Unfallrenten oder Integritätsentschädigung bekommen.
Zudem sei bei Unfällen eine saubere Unfallmeldung das A und O – egal in welchem Alter. Ein Unfall ist laut Art. 4 ATSG eine «plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper». «Wenn das in der Unfallmeldung nicht ganz klar so beschrieben ist, kann der Unfall abgewiesen werden», so Strebel.
Ein Beispiel: Hebt ein Bauarbeiter einen schweren Zementsack und verletzt sich, dann gilt das nicht als Unfall. Bauarbeiter müssen immer schwere Dinge heben. Rutscht der Bauarbeiter beim Aufheben des Zementsacks aber aus und verletzt sich, gilt dies als Unfall.
Stipendien – das Einkommen der Eltern entscheidet
Bei einem Stipendienantrag prüfen alle Behörden immer auch, wie viel die Eltern verdienen. Liegt deren Einkommen über einer kantonal festgelegten Grenze, gibt es keine finanzielle Unterstützung für das Studium.
Die Krux: Auch dann nicht, wenn es sich um eine zweite Ausbildung handelt. «Zwar sind die Eltern gesetzlich nur verpflichtet, die Erstausbildung finanziell zu unterstützen, aber da sie auf dem Papier auch hier zahlen könnten, wird der Stipendienantrag meist abgelehnt.»
Rückwirkend gibt es keine Finanzhilfen
Wie anfangs bereits erwähnt, müssen alle Finanzhilfen selbst beantragt werden. Strebel appelliert an die Selbstverantwortung. «Es lohnt sich, nur schon zu überprüfen, ob man Anspruch auf etwas hat.» Denn rückwirkend gibt es nur selten Geld.
In einzelnen Fällen und mit den entsprechenden Dokumenten kannst du AHV und IV rückwirkend beantragen.
Eine ordentliche AHV-Rente oder Familienzulagen werden rückwirkend ausbezahlt, wenn du vergessen hast, dich anzumelden. Bei der Krankenkasse kannst du Leistungen 5 Jahre rückwirkend einfordern, und wurden keine Alimente festgelegt, so kann ein Gericht diese maximal für ein Jahr rückwirkend festlegen.
«Bei allen anderen Hilfen wie Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe oder individuellen Prämienverbilligungen gilt der Anspruch immer ab Anmeldezeitpunkt», erklärt Strebel. Es lohnt sich also, die eigenen finanziellen Rechte zu prüfen.