Mit eingefallenen Wangen und leerem Blick sitzt Harvey Weinstein (70) im Gerichtssaal in Los Angeles. Seit einer Woche läuft der zweite Prozess gegen den ehemaligen Filmproduzenten. Er soll Frauen jahrzehntelang sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Anfang Oktober musste sich auch Kevin Spacey (63) wegen sexueller Belästigung vor Gericht verantworten. Der Schauspieler wurde freigesprochen.
Fünf Jahre sind vergangen, seit im Oktober 2017 der Skandal um Weinstein die soziale Bewegung MeToo ausgelöst hat, in der Frauen auf der ganzen Welt ihre Missbrauchserfahrungen öffentlich teilten. Auch in der Schweiz. Blick nimmt dies zum Anlass und fragt: Was hat die Bewegung erreicht? Was hat sich für die Opfer verändert? Oder geht die Entwicklung in gewissen Bereichen zu weit?
Betroffene schämen sich weniger
Melanie Nussbaumer (36) hat an der Uni Basel in Soziologie doktoriert und arbeitet als Beraterin und externe Vertrauensperson für Menschen, die bei der Arbeit sexuell belästigt werden. Sie sagt: «Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit Gleichstellungsthemen und sexueller Belästigung, aber noch nie hatte eine feministische Bewegung weltweit so viel ausgelöst wie MeToo.»
Weil unzählige Frauen mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, wissen Betroffene, dass sie nicht alleine sind. Das verhilft ihnen zu einem wichtigen Schritt: sich als Opfer zu sehen und Worte für das Geschehene zu finden. «Dank MeToo schämen sie sich weniger, über das Erlebte zu sprechen und Hilfe zu suchen», so die Expertin, die für die SP im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt sitzt.
Früher sei es weit verbreitet gewesen, dass Opfern von Sexualverbrechen die Mitschuld gegeben wurde. Häufig hätten sie als erste Frage zu hören bekommen: Wieso hast du nicht Nein gesagt oder dich gewehrt? Heute sei es in der Öffentlichkeit bekannter, dass gewisse Opfer während eines sexuellen Übergriffs erstarren und nicht reagieren können. «Die Gesellschaft spricht über sexuelle Belästigung, und die Leute hinterfragen ihr Verhalten. Es ist kein Tabu mehr.»
5 Jahre MeToo – Kommentar
Zu Unrecht verurteilt?
Auch Urs Saxer (65), Anwalt und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, findet, MeToo habe viel bewirkt und zur Bewusstseinsbildung beigetragen. Für ihn gibt es aber eine Schattenseite. «Es besteht die Gefahr, dass Männer in der Öffentlichkeit zu Unrecht vorverurteilt werden», sagt er zu Blick. «Wenn Medien über einen Vorwurf des sexuellen Missbrauchs berichten, wird unter Umständen ein moralisches Urteil gefällt.» Das kann sowohl das vermeintliche Opfer als auch den vermeintlichen Täter negativ treffen.
Denn die Vorwürfe bleiben bestehen und können jederzeit gegoogelt werden. Die Konsequenzen sind einschneidend: «Freunde wenden sich ab, man verliert den sozialen Rückhalt und vielleicht auch die Stelle.» Es bestehe zudem die Gefahr, dass es am Schluss nur Verlierer gibt.
Gefahr von Falschanschuldigungen
Seit MeToo sind zudem vermehrt Stimmen von Männern laut geworden, die befürchten, dass Frauen einen Vergewaltigungsvorwurf als Waffe gegen sie verwenden könnten. Wie stark erfundene Missbrauchsvorwürfe verbreitet sind, ist schwierig zu sagen. Einige europäische Studien schätzen: zwischen vier und acht Prozent. Nora Scheidegger (34), Forscherin im Bereich Sexualstrafrecht, sagte gegenüber dem St. Galler Tagblatt: «Es existieren keine verlässlichen Daten zum tatsächlichen Anteil von Falschbeschuldigungen an Vorwürfen sexueller Gewalt, sondern nur mehr oder weniger zuverlässige Schätzungen.»
Nussbaumer glaubt, dass erfundene Vorwürfe «nur sehr selten» vorkommen, «weil eine Frau nicht davon profitiert, einen Mann des sexuellen Übergriffs zu beschuldigen».
Fazit: MeToo hat die Gesellschaft in den letzten fünf Jahren verändert. Nicht nur für Hollywood-Stars und mächtige Männer. Sondern auch für ganz normale Menschen. Diese Entwicklung kennt viele Gewinnerinnen. Und nur wenige Verlierer.