Ein heisser Sommerbeginn, der 21. Juni 1948 in New York. Über der Skyline leuchtet perfekt kreisförmig der Vollmond. Doch an diesem Montag bekommt er Konkurrenz: Wenn es dämmert, geht hier eine schwarze Scheibe auf und sorgt für weltweite Resonanz – der amerikanische Musikkonzern Columbia Records präsentiert die erste Vinyl-Langspielplatte (kurz: LP) im Hotel Waldorf Astoria.
Am 21. Juni jährt sich das Ereignis zum 70. Mal, mit dem der Siegeszug der Plastik-Schallplatte beginnt. Über 30 Jahre lang ist sie der Haupttonträger der Musikindustrie. Und nach ihrem Niedergang durch die Einführung der CD im Jahr 1982 erlebt die Langspielplatte aus Polyvinylchlorid (PVC) seit gut zehn Jahren ein Revival.
Auf dem Tiefpunkt 2005 verkauften die globalen Labels noch für 35 Millionen Dollar LPs. Dieser Wert hat sich in nur zehn Jahren verzwölffacht auf 416 Millionen. Ein Trend, der sich in gleichem Verhältnis in der Schweiz abzeichnet: Setzte man hier 2005 noch 20 000 LPs ab, sind es 2017 bereits wieder 260 000. Die Käufer sind keineswegs bloss Nostalgiker. Viele Junge, welche die Vor-CD-Ära gar nicht mehr erlebt haben, fahren neuerdings auf die Rille ab.
In den Schaufenstern von Musik Hug in Basel, Bern oder Zürich sind jetzt LP-Cover ausgestellt, nachdem die Ladenkette letztes Jahr den Lokalverkauf von CDs fast vollständig eingestellt hat – der Absatz der Silberlinge ist seinerseits durch Downloads und Streamingdienste in diesem Jahrtausend massiv eingebrochen und macht in der Schweiz 2017 noch gut einen Zehntel des Werts von 2000 aus.
Die 70-jährige Vinylplatte, «so etwas wie die Schreibmaschine der Klangwelt» («Der Spiegel»), ist somit der einzige klassische Tonträger, dessen Nachfrage in den letzten Jahren gestiegen ist (siehe Chronologie in der Fotogalerie oben).
Vinyl hat Vorteile gegenüber Vorgänger und Nachfolger
Hält der Trend an? «Davon bin ich überzeugt», sagt der Deutsche Nils von Kriegsheim (48), der seit gut zwei Jahren das Online-Portal «Der Vinylist» betreibt. «Zum einen, weil ein Download eben doch irgendwie vergänglich ist, und zum andern, weil das Angebot weiter steigen wird.» So habe er festgestellt, dass die Produktionsressourcen wieder aufgebaut werden.
Tatsächlich ist der Elektronikkonzern Sony dieses Frühjahr wieder in die Vinylplatten-Produktion eingestiegen und hat dafür in Japan eigens eine Fabrik eröffnet. Das, nachdem der Co-Erfinder der CD – zusammen mit Philips – die LP-Herstellung 1989 aufgegeben hatte. Damals setzte Sony voll und ganz auf die kleinen, kompakten und unzerkratzbaren Silberscheiben.
Unzerkratzbar vielleicht, aber nicht unzerstörbar: Heute weiss man, dass sich die digital festgehaltenen Daten auf einer CD nach Jahren zu einem Soundbrei auflösen. Demgegenüber mag eine LP mit der Zeit zwar knistern, aber man kann sie mechanisch immer abhören. Und Vinylpuristen schwören auf den wärmeren Klang und die grössere Dynamik aus der Rille.
Während CDs hohe Töne bloss bis 20 000 Hertz wiedergeben (was Menschen schon nicht mehr hören können), geht die LP weit höher. Legendär die angebliche Hundepfeife am Schluss des Songs «A Day in the Life» auf dem Beatles-Album «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» – die 22 000 Hertz sind zwar nicht für die Katz, aber doch nur für den Hund.
So religiös Beschwörungen von LP-Vorteilen gegenüber der CD anmuten können, so unbestritten ist der Fortschritt von der LP-Vorgängerin Schellack zum Vinyl: Der neue Plastik zerbricht nicht gleich, wenn er zu Boden fällt, er sorgt für eine wesentlich bessere Tonqualität und ermöglicht eine deutlich schmalere Rille. Dadurch und durch die geringere Drehzahl des Plattentellers – 78 Umdrehungen pro Minute bei Schellack, 33⅓ bei Vinyl – bietet eine LP-Seite eine wesentlich längere Spieldauer.
Columbia-Records-Präsident Edward Wallerstein steht bei der Präsentation der ersten Vinyl-LP im New Yorker Hotel Waldorf Astoria zwischen zwei Stapeln: hier 325 Musikstücke auf Schellack, dort dieselbe Anzahl Titel auf Vinyl. Da ist der Turm 2,44 Meter hoch, dort bloss 38 Zentimeter.
Dann nimmt Wallerstein eine klassische Symphonie-Aufnahme vom Schellack-Stapel und spielt sie vor. Nach vier Minuten bricht sie mitten in einem Satz ab. Bitte Platte wenden! Danach folgt dieselbe Symphonie auf einer Vinyl-LP – ohne Unterbruch und erst noch in besserer Tonqualität. Musste man früher für die gesamte Komposition fünf Schellacks zu 7.25 Dollar kaufen, ist jetzt das ganze Werk auf einer Vinylplatte für 4.85 Dollar zu haben.
Ein Österreicher will 2019 HD-Vinyl auf den Markt bringen
Bereits eine Woche nach der Pressekonferenz in New York bringt Columbia Records die allererste Vinyl-LP auf den Markt: Felix Mendelssohn Bartholdys «Violinkonzert in E-Moll» mit dem Geiger Nathan Milstein und dem Philharmonic Symphony Orchestra of New York unter der Leitung von Bruno Walter. Bis Ende 1948 gehen 1,25 Millionen Alben über den Ladentisch – das Vinyl hat die erste Kurve gekratzt.
Entwickelt hat die LP der gebürtige Ungar Peter Carl Goldmark (1906–1977). Seit 1936 ist er leitender Ingenieur bei Columbia Broadcasting System (CBS) in New York. Zunächst fertigt er den ersten erfolgreichen Farbfernseher an und tüftelt ab 1940 mit einem sechsköpfigen Team an der Plastikscheibe herum.
Das Hauptproblem ist das teure Material. «Um weniger Vinyl zu brauchen, mussten wir die Platte dünner machen», erinnert sich Goldmark später. «Doch wenn die Platten dünner sind, bekommt man Probleme mit Verwölbungen, und man muss neue Wege finden, um das Vinyl zu stabilisieren. Das bedeutet, neue Pressarten zu finden.»
Nach acht Jahren ist die LP 1948 serienreif. Seither läuft die Herstellung immer gleich ab: Mit dem galvanischen Verfahren schafft man eine metallene Vorlage, die man dann ins zähflüssige Vinyl drückt, und wartet, bis der Plastik erhärtet. Fertig.
Doch nun will ein Österreicher die Produktion revolutionieren: Günter Loibl berechnet mit seinem Verfahren die Rille per Computer. Anschliessend graviert ein Laser den digital konstruierten Sound-Canyon auf eine Pressvorlage aus Keramik. Der Vorteil: Keramik ist beständiger als Metall – die 10 000. Pressung hat noch dieselbe Qualität wie die erste. HD-Vinyl nennt Loibl sein neues Produkt, 2019 soll es auf den Markt kommen.
Das freut den «Vinylisten» Nils von Kriegsheim. «Gerade wenn die Technologie zukünftig eine noch bessere Klangqualität erlauben wird, könnte das noch einmal einen Schub geben», sagt er. Doch die «Faszination LP» ist für ihn nicht davon abhängig. «Für mich gehört zur Musik mehr als nur der Song», sagt von Kriegsheim, «ich habe auch ein Auge fürs Ganze – Plattencover an sich sind schon kleine Kunstwerke.»
LPs haben auch einen optischen und haptischen Reiz
Das Wimmelbild auf dem «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band»-Album der Beatles oder die berühmte Banane von US-Künstler Andy Warhol auf der Hülle der Velvet-Underground-Platte von 1967 – LPs haben einen optischen und haptischen Reiz. Spätestens wenn man Warhols realen Reissverschluss auf dem «Sticky Fingers»-LP-Cover der Rolling Stones runterzieht, merkt man, was mit den aseptischen Plastikhüllen der CDs verloren gegangen ist.
Schlimmer noch das Streamen. «Damit geht für mich die Wertschätzung für den Künstler verloren», sagt von Kriegsheim. «Musik wird austauschbar: kurz reinhören, wieder wegknipsen – nicht mein Ding.» Balsam in den Ohren von US-Rockstar Jack White (42). «Solange du ein Album nicht auf Vinyl hast, besitzt du es nicht richtig», sagt der Komponist der Stadionhymne «Seven Nation Army». «Man schaut auf die sich drehende Platte und fühlt sich wie am Lagerfeuer.» Knistern inbegriffen.